Notfallmedizin up2date 2011; 6(3): 174-176
DOI: 10.1055/s-0031-1280116
Ampullarium

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Analgosedierung und Narkose

Teil 1: AnalgosedierungRuwen Böhm, Patrick Meybohm
Further Information

Publication History

Publication Date:
02 September 2011 (online)

Definition und Einsatzgebiet Bei der Analgosedierung handelt es sich um einen medikamentös induzierten, kontrollierten Zustand der Schmerzausschaltung (Analgesie) und Dämpfung des Bewusstseins (Sedierung). Das wichtigste Einsatzgebiet ist neben dem akuten Ischämieschmerz (z. B. akutes Koronarsyndrom, s. Ausgabe 4/09 [Notf. med. up2date 2009; 4: 278–280]) der akute Traumaschmerz, bei dem durch eine mechanische, chemische oder thermische Gewalteinwirkung eine direkte Erregung von Nozizeptoren vorliegt. Im Gegensatz zur Narkose werden jedoch bei der Analgosedierung vitale Funktionen wie die Spontanatmung und die Aufrechterhaltung von Schutzreflexen sowie die systemische Hämodynamik kaum beeinträchtigt. Insofern findet sie insbesondere in der frühen Therapiephase bei hämodynamisch instabilen Patienten sowie bei eingeklemmten Personen Anwendung, bei denen die Atemwegssicherung im Falle einer narkoseinduzierten Atemdepression erschwert wäre. Für die Analgosedierung wird typischerweise ein Benzodiazepin mit einem Opioid kombiniert. Alternativ steht Ketamin zur Verfügung (Tab. [1]).

Tabelle 1 Wirkstoffe zur Analgosedierung1. NMDA‐Blocker Wirkmechanismus Blockade von NMDA‐Rezeptoren Wirkung dissoziative Anästhesie mit Analgesie unerwünschte Arzneimittelwirkungen Blutdruck- und Herzfrequenzanstieg, Steigerung des Hirndrucks, Hypersalivation, psychotische Träume und posttraumatische Belastungsstörung Kontraindikation akutes Koronarsyndrom, arterielle Hypertonie, Präeklampsie, erhöhter intrakranieller und intraokulärer Druck Ketamin HWZ ca. 2 h Ketanest S 25 mg/ml Injektionslösung 0,25–2 mg/kgKG i. v. Opioide Wirkmechanismus Stimulation von Opioidrezeptoren Wirkung analgetisch, sedierend, atemdepressiv, antitussiv unerwünschte Arzneimittelwirkungen Atemdepression, Sedierung, Bradykardie, Hypotension, Pruritus, Obstipation, Übelkeit, Erbrechen, Miosis Kontraindikation Ileus Fentanyl (1. Wahl bei Traumaschmerzen) HWZ kontextabhängig, bei Einmalgabe 3 h (→ 30 min Wirkdauer) (Betäubungsmittel) Fentanyl-ratiopharm® 50 µg/ml Injektionslösung 0,05–0,2 mg fraktioniert i. v. Morphin (2. Wahl) HWZ 2–3 h (Betäubungsmittel) MSI®, M‐STADA® Ampulle 10 oder 20 mg/ml 2,5–20 mg fraktioniert i. v. Naloxon (Antagonist!) HWZ 70 min (→ ca. 40 min Wirkdauer) Naloxon-ratiopharm® 0,4 mg/ml Injektionslösung 0,1–2 mg fraktioniert i. v. Benzodiazepine Wirkmechanismus allosterische Verstärkung von GABA‐Wirkungen an GABAA‐Rezeptoren Wirkung sedierend, anxiolytisch, schlafinduzierend, muskelrelaxierend, antikonvulsiv, amnestisch unerwünschte Arzneimittelwirkunegn Müdigkeit, Schläfrigkeit, Benommenheit, paradoxe Reaktionen (v. a. Kleinkinder, ältere Pat.), antegrade Amnesie, sehr selten Atemdepression (bei i. v. Gabe), Abhängigkeit Kontraindikation Myasthenia gravis, schwere Leberschäden, respiratorische Insuffizienz, Ataxie Diazepam HWZ ca. 21–54 h (→ 1–3 h Wirkdauer) Faustan® Ampulle 10 mg/2 ml 2,5–10 mg fraktioniert i. v. Midazolam HWZ 1–2 h Dormicum® Ampulle 5 mg/5 ml, 15 mg/3 ml 1–5 mg fraktioniert i. v. Flumazenil (Antagonist!) HWZ 53 min Anexate® 1 mg/10 ml Injektionslösung 0,2 mg fraktioniert i. v. HWZ = Halbwertszeit 1 Handelsnamen sind beispielhaft genannt, die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Benzodiazepine Für die Sedierung gelten die Benzodiazepine Midazolam und Diazepam als bevorzugte Substanzen (vgl. auch Ausgabe 4/09 [Notf. med. up2date 2009; 4: 278–280]). Benzodiazepine binden an periphere und zentrale „Benzodiazepinrezeptoren“. Der zentrale „Benzodiazepinrezeptor“, über den unten beschriebene Wirkungen vermittelt werden, wurde mittlerweile als GABAA-Rezeptor identifiziert. Benzodiazepine binden dort allosterisch (d. h. „an anderer Stelle“ als der endogene Ligand), erhöhen die Affinität von γ‐Aminobuttersäure (GABA) zu GABAA-Rezeptoren und verstärken so physiologische Hemmungsmechanismen (inhibitorische Neurone) im zentralen Nervensystem. Sie wirken nicht nur sedierend, sondern auch angstlösend, amnestisch, krampflösend und zentral muskelrelaxierend und darüber hinaus in höherer Dosierung hypnotisch. Benzodiazepine wirken jedoch nicht analgetisch: Bei schmerzhaften Zuständen oder Eingriffen muss also zusätzlich ein Analgetikum verabreicht werden. Midazolam gehört zur Gruppe der kurzwirksamen und Diazepam zur Gruppe der langwirksamen Benzodiazepine. Der Wirkeintritt ist jedoch ähnlich schnell.

Benzodiazepine werden überwiegend hepatisch verstoffwechselt. Eine eingeschränkte Leberfunktion (z. B. alte Patienten) oder eine Hemmung des Cytochrom-P450-Isoenzyms CYP3A4 (z. B. durch Clarithromycin, Azol-Antimykotika, Verapamil oder Proteaseinhibitoren) verzögert die Elimination und verlängert die Wirkung. Insbesondere bei Diazepam, welches langsam (HWZ 21–54 h) zu aktiven, ebenfalls langwirkenden (HWZ > 10 h) Metaboliten umgebaut wird, kann bis zu 2 Tage lang ein sogenannter Hangover bestehen.

Bei Säuglingen und älteren Patienten sind darüber hinaus paradoxe Wirkungen beschrieben: Statt einer allgemeinen Dämpfung kommt es hier zu Unruhe, Aggressivität und Schlaflosigkeit.

Benzodiazepine können mit Flumazenil problemlos antagonisiert werden. Auch eine evtl. paradoxe Reaktion lässt sich mit Flumazenil antagonisieren. Die Wirkdauer von Flumazenil ist mit ca. 1 h relativ kurz, sodass es evtl. mehrfach appliziert werden muss.

Opioide Opioide wie Fentanyl und Morphin interagieren wie die körpereigenen Enkephaline und Endorphine mit den Opioidrezeptoren vom Typ δ, κ und µ. Fentanyl ist aufgrund seiner schnell einsetzenden und starken Analgesie bei nur geringer Blutdrucksenkung das Schmerzmittel der 1. Wahl beim Traumaschmerz. Morphin ist u. a. aufgrund der begleitenden Sedierung das Schmerzmittel der 1. Wahl beim akuten Koronarsyndrom (s. Ausgabe 4/09 [Notf. med. up2date 2009; 4: 278–280]).

Die analgetische Wirkung beider Substanzen beruht auf der Aktivierung ubiquitär exprimierter Opioidrezeptoren im zentralen und peripheren Nervensystem. So blockieren Opioide sowohl die Schmerzfortleitung im Rückenmark durch Hemmung des aufsteigenden nozizeptiven Systems als auch die Schmerzverarbeitung in der Pons, im Thalamus und im limbischen System. Opioide führen zu einer verstärkten Dopaminfreisetzung, welche eine Euphorie auslösen kann. Weitere unerwünschte, oft Dopaminvermittelte Arzneimittelwirkungen von Opioiden sind Spasmen der glatten Muskulatur (spastische Obstipation!), Übelkeit und Erbrechen sowie bei Fentanyl in höherer Dosierung Thoraxrigidität.

Fentanyl hat eine ca. 100-fach stärkere analgetische Potenz als Morphin, d. h., die Fentanyldosis, die notwendig ist, um einen definierten Schmerz auszuschalten, ist 100‐mal geringer als die Morphindosis. Darüber hinaus birgt Fentanyl verglichen mit Morphin ein erhöhtes Risiko für eine Atemdepression. Eine Dosis von > 1 μg/kgKG kann bereits atemdepressiv wirken. Die Anschlagzeit bis zum Wirkmaximum beträgt 4–5 min, die Wirkdauer 20–30 min.

Fentanyl wird zügig aus Blut und Gehirn in fettreiche Kompartimente umverteilt, was zum raschen Wirkungsverlust beiträgt. Bei repetitiver Gabe akkumuliert es und kann durch Rückverteilung zu erneuter Sedierung und/oder Atemdepression führen. Darüber hinaus können die Fentanyleliminationswege gesättigt werden. Je länger die Fentanylapplikation erfolgt, desto stärker verzögert sich die Elimination und verlängert sich die Wirkdauer (sog. kontextsensitive Halbwertszeit).

Opioide werden weitgehend über die Cytochrom-P450-Isoenzyme CYP2D6 und CYP3A4 abgebaut. Insbesondere starke CYP3A4-Hemmer (s. o.) verlangsamen den Abbau.

Die initiale Übelkeit kann mit Metoclopramid behandelt werden. Eine Antagonisierung ist mit Naloxon möglich. Die Wirkdauer von Naloxon ist mit ca. 40 min kürzer als die der meisten Opioide, sodass ggf. eine repetitive Gabe erwogen werden muss.

Ketamin Eine Sonderstellung nimmt Ketamin als Analgosedativum ein. Ketamin ist ein sogenanntes Dirty-Drug, also ein Medikament mit mehreren Zielstrukturen. Es blockiert u. a. N‐Methyl-D‐Aspartat- (NMDA-)Rezeptoren und stimuliert 5-HT2-Serotonin- und D2-Dopaminrezeptoren. NMDA‐Rezeptoren sind an der Weiterleitung von Schmerzreizen und der Ausbildung des Schmerzgedächtnisses beteiligt. Ketamin wirkt daher ausgezeichnet analgetisch und gering sedativ. Im Unterschied zu anderen Sedativa und Hypnotika (s. nächste Ausgabe) hat Ketamin jedoch keine depressorischen Effekte auf Atmung oder Kreislauf; es vermittelt sogar eine sympathomimetische Wirkung und Bronchodilatation. Spontanatmung und Schutzreflexe bleiben erhalten. Bei kardialen Belastungen (z. B. akutes Koronarsyndrom) sollte Ketamin nicht angewendet werden, da es wegen seiner sympathomimetischen Wirkung (u. a. Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmung) zum Anstieg von Blutdruck und Herzfrequenz führt. Weitere Kontraindikationen sind arterieller Hypertonus, gesteigerter intraokulärer Druck (Glaukom), erhöhter Hirndruck sowie Präeklampsie.

NMDA‐Rezeptoren sind bedeutsam für Gedächtnisbildung und kortikale kognitive Funktionen. Eine Hemmung führt daher zu einer dissoziativen Anästhesie: Das Gehirn wird von sämtlichen Reizen abgekoppelt. Der Patient erlebt aufgrund der NMDA‐Blockade – aber auch aufgrund der Stimulation der Psychose vermittelnden 5-HT2- und D2-Rezeptoren – unangenehme, psychotische, „albtraumhafte“ Empfindungen, die durch die gleichzeitige Gabe eines Benzodiazepins (z. B. Midazolam) jedoch verhindert werden können. Aufgrund von pharmazeutischen Wechselwirkungen dürfen Ketamin und Benzodiazepin nicht gemeinsam in einer Spritze oder Infusion aufgezogen werden, sondern müssen getrennt verabreicht werden.

Das früher verwendete Ketamin ist ein Racemat, d. h., es besteht aus (R)- und (S)-Ketamin, die sich wie Bild und Spiegelbild verhalten und chemisch identisch, biochemisch-pharmakologisch jedoch verschieden sind. Ketamin wurde inzwischen in der Humanmedizin vom reinen (S)-Ketamin abgelöst. Die Vorteile des (S)-Ketamin sind eine erhöhte Affinität zum NMDA‐Rezeptor und somit deutlich weniger psychomimetische und kardiovaskuläre Effekte. (S)-Ketamin kann i. v. (0,25–2 mg/kg KG; Wirkeintritt nach wenigen Sekunden) und i. m. (0,5–4 mg/kg KG; langsamer Wirkeintritt im Vergleich zu i. v.) gegeben werden. Die Analgesie hält auch nach Abklingen der dissoziativen Wirkung an.

Fazit

Für die Analgosedierung wird typischerweise ein Sedativum (Midazolam) mit einem potenten Analgetikum (Fentanyl) kombiniert, denn Midazolam alleine wirkt zwar stark sedierend und anxiolytisch, hat jedoch keine eigene analgetische Wirkung. Bei eingeklemmten Unfallopfern oder hämodynamisch instabilen Patienten bietet sich (S)-Ketamin als ein starkes Analgetikum und Anästhetikum mit weniger ausgeprägten kardio- und atemdepressorischen UAW an. (S)-Ketamin muss jedoch aufgrund seiner psychomimetischen Effekte immer mit einem Benzodiazepin kombiniert werden.

Zoom Image
PD Dr. med. Patrick Meybohm

Oberarzt an der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel

Arnold-Heller-Straße 3

24105 Kiel

Email: meybohm@anaesthesie.uni-kiel.de

Zoom Image
Dr. med. Ruwen Böhm

Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel

Hospitalstraße 4

24105 Kiel

Email: ruwen.boehm@pharmakologie.uni-kiel.de

    >