Diabetes aktuell 2011; 9(2): 61-63
DOI: 10.1055/s-0031-1278656
Nachgefragt

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Anorexie, Bulimie, Binge-Eating & Co. – Diabetes mellitus, Übergewicht und gestörtes Essverhalten

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Publication Date:
02 May 2011 (online)

 

Kann Typ-1-Diabetes ein Risikofaktor für die Entwicklung einer Essstörung sein? Und welche Bedeutung haben eigentlich Essstörungen als Risikofaktoren für die Entwicklung von Übergewicht, Adipositas und Typ-2-Diabetes? Wie sieht eine Therapie aus, die sowohl die Ursachen als auch die Symptome der Erkrankung behandelt?
Über Diabetes und gestörtes Essverhalten sprach im Auftrag von "Diabetes aktuell" die Journalistin Susan Röse mit Professor Stephan Herpertz, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des LWL-Universitätsklinikums Bochum der Ruhr-Universität Bochum. Er hat den Lehrstuhl für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Ruhr Universität Bochum und ist Mitherausgeber der Zeitschrift "Obesity Facts".

? Herr Professor Herpertz, ist der Diabetes ein Risikofaktor für die Entwicklung einer Essstörung? Welche Rolle spielt dabei die für eine erfolgreiche Behandlung des Diabetes unverzichtbare Kontrolle des Essverhaltens?

Herpertz: Um eine ausreichende Stoffwechsellage zu gewährleisten, ist eine eigenverantwortliche und flexible Therapie von Seiten der Patienten notwendig. Der Preis ist die lebenslange Auseinandersetzung mit Nahrungsmitteln, Gewichtsregulation und körperlicher Aktivität, was insbesondere junge Frauen zur Entwicklung einer Essstörung prädisponieren kann (Abb. [1]).

Abb. 1 Gestörtes Essverhalten bei 91 Mädchen mit Diabetes.

Bei fast allen Patienten mit Typ-1-Diabetes beginnt die Anorexia nervosa oder die Bulimia nervosa erst nach der Manifestation des Diabetes. Der Diabetes geht in der Regel wegen der katabolen Stoffwechsellage und der Dehydration mit einem Gewichtsverlust einher. Und umgekehrt nehmen viele Patienten nach Diagnosestellung insbesondere durch Rehydratation und die anabole Wirkung des Insulin an Gewicht wieder deutlich zu, was die für diese Altersgruppe typische "Gewichtsphobie" aggravieren kann, mit der Folge einer Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, Wunsch nach Gewichtsreduktion und gezügeltes Essverhalten als Voraussetzung für die Entwicklung einer Essstörung.

? Wie häufig erkranken Diabetikerinnen an Anorexia nervosa, Bulimia nervosa, Binge-Eating-Störung oder subsyndromalen Essstörungen im Vergleich mit Nichtdiabetikern?
Was ist eigentlich mit den Männern?

Herpertz: Im Hinblick auf den Erkrankungsgipfel in der Pubertät und frühen Adoleszenz fällt die Koinzidenz der Anorexia nervosa und der Bulimia nervosa mit dem Typ-1-Diabetes auf. In der Vergangenheit wurde die Frage einer überzufällig häufigen Komorbidität von Diabetes und Essstörungen, insbesondere der Bulimia nervosa, in zahlreichen Studien untersucht. Diese Studien kommen zum Schluss, dass die Häufigkeit der Anorexia nervosa bei Frauen mit Typ-1-Diabetes gegenüber stoffwechselgesunden Frauen nicht erhöht ist, wohl aber die Häufigkeit der Bulimia nervosa oder auch von Essstörungen, die nicht alle Kriterien der Bulimie erfüllen (nicht näher bezeichnete Essstörungen).

Die Zahl der an Anorexie oder Bulimie erkrankten Männer ist generell sehr gering und damit dürfte die Anzahl der komorbiden Männer ebenfalls äußerst gering sein.

Die Frage einer überzufälligen Koinzidenz von Essstörungen, insbesondere der Binge-Eating-Störung, und Typ-2-Diabetes wird in der Literatur kontrovers diskutiert. Eindeutige Hinweise auf eine erhöhte Prävalenz der Binge-Eating-Störung bei Diabetikern gegenüber stoffwechselgesunden Menschen gibt es nicht. Im Gegensatz zum Typ-1-Diabetes, der in der Regel der Essstörung vorausgeht, datiert nach einer eigenen Studie aus dem Jahr 1998 immerhin die Hälfte der Patienten mit Typ-2-Diabetes den Beginn der Essstörung vor die Diagnosestellung des Diabetes. Der von den untersuchten Patienten angegebene Zeitraum von 15 bis 35 Jahren berechtigt zur Annahme, dass die Essstörung häufig noch vor der Manifestation einer diabetischen Stoffwechsellage begann. Auch wenn die monokausale Denkweise der Binge-Eating-Störung als Ursache von Übergewicht und Adipositas mittlerweile revidiert werden musste, so zeichnen sich doch adipöse Menschen mit dieser Störung im Vergleich zu nicht essgestörten adipösen Menschen durch ein höheres Gewicht aus. Von daher wirkt sich diese Diagnose bei Menschen mit Typ-2-Diabetes aggravierend auf den Gewichtsverlauf und die Insulin-resistenz aus.

? Wie viele Diabetikerinnen mit einer Essstörung wenden die diabetesspezifische kompensatorische Methode des "Insulin-Purging" an, um durch absichtliches Unterdosieren oder Weglassen von Insulin eine Glukosurie, einen Kalorienverlust und damit eine Gewichtsabnahme zu erreichen?

Foto: PhotoDisc

Herpertz: Die bewusste Reduktion insbesondere der abendlichen Insulindosis zur Gewichtsreduktion stellt eine häufige gegenregulatorische Maßnahme bei essgestörten Frauen mit Typ-1-Diabetes dar, häufiger jedenfalls als Erbrechen oder der Gebrauch von Abführmitteln oder Diuretika. Interessanterweise scheint die Prävalenz der bewussten Insulinreduktion mit steigendem Alter zuzunehmen. Während Colton et al. [2004] in ihrer Untersuchung von Kindern und Adoleszenten im Alter zwischen 9 und 14 Jahren nur bei 2 % Insulin-Purging beobachten konnten, lag die Prävalenz bei Jones et al. [2000] in ihrer Untersuchung von weiblichen Teenagern bei 14 % und bei Rydall et al. [1997] bei 34 % in ihrer Stichprobe von erwachsenen Frauen.

? Wird diese spezifische Verhaltensweise auch von nicht essgestörten diabetischen Mädchen und Frauen angewandt, um eine Gewichtsreduktion herbei zu führen?

Herpertz: Das Insulin-Purging wird nicht nur von essgestörten Frauen durchgeführt. Wir sehen es bei bis zu 60 % bei Diabetikerinnen, die eine Essstörung haben, aber auch bei nicht essgestörten diabetischen Mädchen und Frauen in bis zu 30 %. Von Männern haben wir hier keine Daten, bei ihnen ist es aber wahrscheinlich sehr selten.

? Wie sieht die metabolische Kontrolle aus, welche Komplikationen treten auf und wie hoch ist Sterberate bei einer solchen Doppelerkrankung?

Herpertz: Zahlreiche Querschnittsuntersuchungen konnten nachweisen, dass Essstörungen eine deutliche Verschlechterung der Stoffwechseleinstellung zur Folge haben und auch häufiger zu dia-betischen Folgeerkrankungen führen. Bei einer Untersuchung an jungen Frauen mit Typ-1-Diabetes über 4 Jahre zeigte sich gestörtes Essverhalten, das nicht alle Kriterien einer Essstörung nach ICD-10 erfüllte, wie zum Beispiel Insulin-Purging, Diätverhalten oder selbstinduziertes Erbrechen. Dieses Verhalten ging häufig mit einer unzureichenden Stoffwechseleinstellung und einem hohen Risiko für die Entwicklung einer diabetischen Retinopathie einher. Ebenso wiesen Peveler et al. [2005] bei Patienten mit Typ-1-Diabetes nach, dass nicht nur klassische Essstörungen, sondern auch gestörtes Essverhalten und Insulin-Purging erhebliche Gesundheitsrisiken nach sich ziehen und mit einer signifikant höheren Prävalenz von mikrovaskulären Komplikationen und einer erhöhten Mortalität einhergehen können. Das Risiko für die Entwicklung einer Retinopathie ist bei Diabetikerinnen mit einer Essstörung um den Faktor 5 erhöht.

? Ab wann ist ein "über den Hunger essen" pathologisch und was ist kein pathologisches "Überessen"?

Herpertz: Verschiedene Variationen des gestörten Essverhaltens, wie "Binge-Eating", "grazing" (Grasen, permanentes Essen), "Überessen bei Mahlzeiten" als auch "nächtliche Essanfälle" führen zu Übergewicht und Adipositas mit der möglichen Konsequenz eines Typ-2-Diabetes. "Überessen" bei den Mahlzeiten kommt häufig vor. Weil es eben so gut schmeckt, vergisst man schon einmal, dass man ja eigentlich keinen Hunger mehr hat. Problematisch ist es nur dann, wenn das Essverhalten zu Übergewicht und Adipositas führt. Es gibt ja glückliche Menschen, die Berge von Nahrungsmitteln verzehren können, ohne dick zu werden - und deren Essverhalten würde man nicht als pathologisch bezeichnen. Andererseits gibt es Menschen, die sich tatsächlich normokalorisch ernähren, aber wahrscheinlich aufgrund ihrer genetischen Disposition dabei schon zunehmen.

? Werden die psychosomatischen Aspekte der Adipositas und des Diabetes mellitus vernachlässigt, müssten sie nicht eine höhere Priorität genießen?

Herpertz: Es sind ja die meisten Menschen mit Diabetes mellitus psychisch gesund. Andererseits werden aber psychische Störungen bei Menschen mit Diabetes mellitus zu wenig diagnostiziert. So ist z. B. das Risiko an Depression zu erkranken bei Menschen mit Diabetes doppelt so hoch wie in der Normalbevölkerung. Aber nur bei der Hälfte wird die Diagnose gestellt und wieder nur bei der Hälfte davon erfolgt eine adäquate Behandlung. Wichtig ist also eine frühzeitige adäquate Diagnostik.

? Wie sieht Ihrer Meinung nach eine optimale Therapie aus?

Herpertz: Wenn eine Essstörung vorliegt, besteht die Indikation für eine Psychotherapie. Das kann bei Fehlen einer weiteren psychischen Störung oder bei einer "leichten" Essstörung eine angeleitete Selbsthilfegruppe sein, das können hausärztliche Gespräche im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung sein, das muss aber eine Psychotherapie sein, wenn eine klassische Essstörung wie die Anorexie, die Bulimie oder die Binge-Eating-Störung vorliegt.

Eine optimale Therapie, die sowohl die Ursachen als auch die Symptome der Erkrankung behandelt, verlangt die Teamarbeit von ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten, Diabetologen und Ernährungsberatern.

Herr Professor Herpertz, vielen Dank für das Gespräch.

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