Zusammenfassung
Während in der soziologischen Sozialstrukturanalyse seit den 1980er Jahren eine Kontroverse zwischen den Klassen- bzw. Schichtmodellen und neueren Milieu- und Lebensstilmodellen eingesetzt hat, ist dies innerhalb der medizinischen Soziologie und Sozialepidemiologie weitgehend ausgeblieben. Angesichts fortwährender Befunde über das Bestehen eines ausgeprägten Sozialgradienten in den Gesundheitschancen erwies sich hier die Fokussierung auf schichtspezifische Unterschiede nach wie vor als angemessen. Insbesondere für die Zielsetzung der Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit wird jedoch zunehmend offenbar, dass die schichtspezifische Betrachtung zu abstrakt ist, um daraus konkreten und zielgruppenspezifischen Interventionsbedarf ableiten zu können. Aus der Debatte innerhalb der Sozialstrukturanalyse sind inzwischen weitere sozialstrukturelle Konzepte hervorgegangen, die mit ,Lebenslagen‘ bzw. ,Soziallagen‘ umschrieben werden. Diese Ansätze gehen mit unterschiedlicher Akzentuierung grundsätzlich von der Relevanz sozioökonomischer Ungleichheitsdimensionen aus, beanspruchen jedoch gleichzeitig der Mehrdimensionalität sozialer Ungleichheit Rechnung zu tragen und einen stärkeren Lebensweltbezug zu offerieren. Erste empirische Analysen im medizinsoziologischen Kontext verweisen auf Vorzüge der Lagen-Ansätze gegenüber den traditionellen Schichtansätzen und lassen sie damit auch für die medizinsoziologische Forschung attraktiv erscheinen. Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, die ,Lagen-Ansätze‘ näher vorzustellen. Im Mittelpunkt des Beitrages stehen vor allem Fragen zur theoretischen Ausgestaltung der Konzepte und, damit eng verknüpft, zur methodischen Generierung von Lagen sowie ihre potenzielle Anschlussfähigkeit an die klassischen Schichtansätze. Angestrebt wird, die bislang vornehmlich in der Sozialstrukturanalyse und Sozialberichterstattung zur Anwendung kommenden Lagen-Ansätze in stärkerem Maße für die medizinsoziologische Forschung fruchtbar zu machen.
Abstract
For the last 30 years the appropriateness of social strata concepts has been discussed controversially in Germany. It was hypothesised that changes in the social structure resulting in a greater heterogeneity of social living conditions has decreased the relevance of social strata concepts. However, socio-epidemiological research still revealed a strong social gradient, indicating that health risks are still depending on individual social background. Nevertheless, enhanced models of social stratification could be fruitful for socio-epidemiological research, particularly with respect to the objective of reducing health inequality. The 'concept of living conditions' is one of the continuative social strata approaches, which is based on a multidimensional concept of social inequality. First use of this concept provided promising results in obtaining a more precise description of health-related living conditions. In this paper, the concept is presented in more detail, spotlighting on questions about conceptual realisation as well as empirical implementation. The paper aims to encourage a wider discussion about the use of these concepts for socio-epidemiological research and medical sociological theory.
Schlüsselwörter
gesundheitliche Ungleichheit - Lebenslagen - Schichten - Soziallagen - Sozialepidemiologie
Key words
concept of living conditions - health inequality - social strata - social epidemiology
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Korrespondenzadresse
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Medizinische Soziologie
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