Psychiatr Prax 2011; 38(2): 98
DOI: 10.1055/s-0031-1275220
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Psychiatrische Miniaturen

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Publication Date:
10 March 2011 (online)

 

Peter Bichsel, der Schweizer Erzähler, begann seine Rede zum Geburtstag der Sozialpsychiatrischen Klinik in Bern etwa so: Ich beneide Sie; Sie bekommen als Psychiater Geschichten erzählt und werden dafür noch bezahlt; ich muss mir die Geschichten mühsam ausdenken.

Christian Müller hat in seinem Leben und bei seiner Arbeit viele Geschichten erzählt bekommen und miterlebt: In seinem neuen Buch erzählt er 55 "Spitalsgeschichten", von Italienern, Engländern und Amerikanern, von einem Korbflechter, einer Dame mit dem roten Hütchen und einem verliebten geistig Behinderten, locker verbunden durch den Ort, wo die meisten lebten und behandelt wurden. Christian Müller, den Jörg Breitmaier im Karlsruher Städtischen Klinikum zusammenfassend als den "Sauerbruch der Psychiatrie" vorstellte, erzählt uns aus der Sicht des Kindes, das im Spital aufwächst, aus der Sicht des diensthabenden Assistenten und des Chefs vom Leben in seinem Spital.

Es sind nicht nur faszinierende Geschichten, die ihm von den Patienten, den Mitarbeitern und Angehörigen geschenkt wurden. Die Qual, die der Junge in den nächtlichen Schreien der Patienten hörte, wird ein Motiv: "Sie wollen, dass man sie hört, sie wollen, dass man auf sie aufmerksam wird." Diese Schreie, "ein Gemisch von Schmerz, Hass, von Hoffnungslosigkeit und Obszönität" werden im Verlauf der Geschichten und damit auch der Geschichte der Psychiatriereform in der Schweiz leiser und verstehbarer. Aber der Schmerz, manchmal über die eigene Hilflosigkeit, manchmal über die Last der Verantwortung als Chef, die Schuldzuweisungen und die ewige Frage, habe ich alles getan, was getan werden konnte, bleiben Hintergrund der Geschichten.

Zu diesen Hintergrunds- und Gewissensfragen gehören Berichte vom Besuch bei den Nachtdiensten, die "versuchte Nähe" mit den Patienten in der Schälküche, wo der Chef sich zeigen lässt, wie man Kartoffeln schält und die etwas mühsamen Tanzabende, vom Vorgänger übernommen. Entscheidungen werden eindeutig und ziemlich einsam getroffen: etwa die Entscheidung gegen die Antibiotikabehandlung bei einem schwerkranken alten Patienten und der gesundmachende Rat an den amerikanischen Sprachwissenschaftler, zurückzukehren in die Heimat. Das Aufnahmebegehren von 2 betrunkenen Kollegen, einem Arztehepaar, entscheidet der Autor als junger diensthabender Arzt, einsam und souverän, wie ich finde. Unabhängig und unbestechlich werden die tollsten Geldgeschenke abgelehnt. Vielleicht das Wichtigste: Viele einzelne Patienten werden vom Chef gekannt und gemocht.

Eine andere Miniatur beleuchtet die Beziehung zur italienischen Reformpsychiatrie: die assemblea im manicomio erlebt der Autor als Besucher mit, die Ärzte haben Wichtigeres zu tun, verschwinden, und werden von den Patienten vermisst [1]. Bei einem Besuch auf der Alm bei .einer schwer seelisch kranken Frau wird die Antipsychiatrie kritisch bedacht. Oben auf der Alm und dort bei der assemblea verschwinden die Probleme und Symptome nicht so einfach in einer freieren Umgebung.

Christian Müller geht bei sich und seiner Profession immer wieder auf den Grund, besonders deutlich in der Geschichte "Aus der Tiefe" vom Ziehbrunnen bei seiner Wohnung. Er steigt mit den Märchenbildern im Kopf tatsächlich in den alten Brunnen hinab und reflektiert die Gefahren, Ängste und Chancen der psychiatrischen Einstiege in die Tiefe der Erinnerung; der Brunnen ist auch Bild für die .Arbeit der Tiefenpsychotherapie, der Christian Müller zeitlebens verbunden ist.

Der Chef erzählt uns auch von seiner Wut und Enttäuschung, wenn es um die Negativbilder aus "seiner" Psychiatrie geht. Da sitzen 2 Frauen mit ihm im Zugabteil, unerkannt hört er, wie sie über die Einweisung des Sohnes in "seine" Klinik herziehen, die aus der Sicht des Spitals ganz anders begründet war. Wirklich wütend aber wird der Autor in der Geschichte vom Vater, der mit seiner 6–7-jährigen Tochter ins Spital kommt. Der Chefarzt soll sagen, so wünscht es der Vater, dass sein Kind ins Irrenhaus kommt, wenn es nicht folgsamer wird.

Wie sollen wir uns für die bessere Psychiatrie einsetzen, wenn sie ungestraft auch von den Kollegen beschimpft wird? Die Geschichte von dem chirurgischen Kollegen, dessen alte Mutter erfolgreich im Spital behandelt wurde, zeigt das besonders gut. Voller Anerkennung für die gute und erfolgreiche Behandlung berichtet der Kollege freimütig, dass er jetzt, nach der Entlassung der Mutter, einen weiten Bogen um die Psychiatrie mache, weil er sie nicht mehr sehen und hören will. Und das wohl nicht nur, weil er die Schreie den Patienten zuordnete, und nicht den Schweinen des Spitals!

In dem kleinen Band, der anschließt an andere, frühere psychiatriegeschichtliche Arbeiten von Christian Müller, werden Momente und Entwicklungen in der Schweizer Psychiatrie des 20.Jahrhunderts geschildert. Die Miniaturen regen mich und andere Leser an zum Erinnern an meine Tage und Nächte im Hospital und an die offenen Fragen, die mich am Einschlafen gehindert haben. Das Besondere dieser Lektüre war für mich nicht nur die Farbigkeit der Spitalsgeschichten, sondern die ehrlich dargestellte Empfindlichkeit eines Chefs gegenüber der Kritik an der Psychiatrie im Allgemeinen und im Besonderen, sei sie offensichtlich "unrichtig" oder berechtigt. Wir fühlen immer wieder, dass wir als Engagierte besonders heftig auf Kritik reagieren. Nach vielen Projekten der Weiterbildung mit Ärzten und Pflegepersonen nehme ich an, dass der weiterführende, hilfreiche Umgang mit Kritik vielleicht das wichtigste Lernziel ist, für mich und alle, die direkten Kontakt mit Patienten haben, die Angehörigen eingeschlossen. Es lohnt also sehr, und nicht nur aus diesem Grund, den kleinen Band zu lesen und die Erfahrungen eines berühmten Chefs zu nutzen, um den eigenen Erinnerungen, Gefühlen und Erfahrungen auf die Spur zu kommen.

Maria Rave-Schwank, Karlsruhe
Email: maria.rave@t-online.de

Müller C. Psychiatrische Miniaturen – Spitalsgeschichten. Bonn: Psychiatrie Verlag, 2010, Edition Das Narrenschiff, 160 S., €19,95. ISBN 978-3-88414-495-4

Literatur