Klinische Neurophysiologie 2011; 42 - V161
DOI: 10.1055/s-0031-1272676

Der Einfluss visueller Pertubation auf die multisensorische Integration während des Gehens

R. Schniepp 1, M. Wühr 1, T. Brandt 1, M. Strupp 1, K. Jahn 1
  • 1München

Die Integration sensorischer Informationen in den Lokomotionsablauf ist für das bipedale Gehen des Menschen besonders wichtig. Auf kortikaler Ebene kommt es zu Interaktionen sensorischer Areale, die geschwindigkeitsabhängig sind. Mit zunehmender Lokomotionsgeschwindigkeit werden vestibuläre und somatosensorische kortikale Regionen gehemmt, während das visuelle System zunehmend an Dominanz gewinnt (Jahn et al. 2004). Es wird vermutet, dass damit störende intersensorische Konflikte bei automatisierten Bewegungsmustern vermieden werden. Die multisensorische Interaktion während des Gehens ist in Blinden grundlegend verändert. Ziel dieser Studie ist die Untersuchung von Veränderungen im Lokomotionsmuster beim Gehen ohne visuelle Information.

Das Gehen von 22 gesunden Probanden wurde mittels des GaitRite® System analysiert. Das System liefert die gängigen Parameter wie Geschwindigkeit, Schrittlänge und -breite sowie Gangvariabilität. Die visuelle Kontrolle wurde mittels einer völlig abgedunkelten Brille während des Gehens aufgehoben. Im Anschluss wurde mittels funktionellen MRT BOLD-Signal-Veränderungen während vorgestelltem Gehen und Stehen gemessen.

Aufhebung visueller Kontrolle führte zu keiner Abnahme der Ganggeschwindigkeit (δ=17,5cm/s, n.s.). Die temporale und spatiale Gangvariabilität war signifikant erhöht beim langsamen Gehen (<70cm/s). Im fMRT zeigte sich eine Aktivierung im vestibulären (posteriore Insula bds.) und somatosensorischen (Gyrus postcenralis bds.) Kortex und eine Deaktivierung im für die räumliche Orientierung wichtigen Gyrus parahippocampalis.

Die Ergebnisse zeigen, dass Gehen ohne visuelle Informationen im Gesunden zu unmittelbar adaptativen Prozessen der sensorischen Interaktion führt. Visuelle Perturbation führt zu den stärksten Abweichungen während langsamen Gehens. Dieses Phänomen zeigt sich auch bei Patienten mit sensorischen Störungen (Vestibulopathie, Polyneuropathie). Die adaptiven Prozesse im fMRT zeigen eine große Homologie zu Kompensationsmechanismen von chronisch blinden Patienten (Deutschländer et al. 2008).

Sensorische Perturbation führt zu einer unmittelbaren, multisensorischen Substitution auf im Lokomotionsnetzwerk. Dabei ist das Ausmaß der multisensorischen Interaktion von der Lokomotionsgeschwindigkeit abhängig. Die Ergebnisse haben Bedeutung für die Behandlung von Patienten mit sensorischen Defiziten: der größte Effekt auf das gestörte System ist bei Training mit langsamer Geschwindigkeit zu erwarten.