Z Sex Forsch 2011; 24(1): 84-99
DOI: 10.1055/s-0031-1271444
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Publication Date:
22 March 2011 (online)

Sexualität in Frankreich

Nathalie Bajos und Michel Bozon: Enquête sur la sexualité en France. Pratiques, genre et santé. Mit einem Vorwort von Maurice Godelier. Paris: Editions La Découverte 2008. 609 Seiten, mit Abbildungen, EUR 27.– [1]

Im Jahre 1992 wurde in Frankreich die bis dahin größte Befragung zum Sexualverhalten der erwachsenen französischen Bevölkerung durchgeführt. Erreicht wurden mit der telefonischen Repräsentativbefragung 20 055 Frauen und Männer zwischen 18 und 69 Jahren, vor allem mit dem Ziel, der HIV/Aids-Prävention Informationen über das Vorkommen und die Frequenz von HIV-übertragungsrelevanten Sexualpraktiken zu liefern. Die Erhebung erbrachte allerdings gleichzeitig ein differenziertes Bild der Sexualität der französischen Bevölkerung, das bis dahin nicht zur Verfügung gestanden hatte.[1] Zehn Jahre danach, im Jahre 2002, befand eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern, dass vor dem Hintergrund der seit 1996 verfügbaren antiretroviralen Medikamente und der seitdem erfolgten „Feminisierung und […] Präkarisierung“[2] (S. 21) der von HIV / Aids betroffenen Gruppen, eine neue große Erhebung angebracht wäre. Es konstituierte sich eine Forschungsgruppe, die 2003 einen umfangreichen Forschungsantrag an die ANRS (Agence Nationale de Recherches sur le SIDA), eine europaweit singuläre Forschungsinstitution, richtete. Dem Antrag wurde stattgegeben und zwischen September 2005 und März 2006 konnten 12 364 Personen zwischen 18 und 69 Jahren telefonisch befragt werden. Die Interviews dauerten im Durchschnitt 50 Minuten. Ca. 75 Prozent der kontaktierten in Frage kommenden InterviewpartnerInnen willigten in ein Interview ein. Dies lässt den AutorInnen zufolge auf eine inzwischen erhöhte Interviewbereitschaft im Kontext von Sexualität schließen: „Die soziale Legitimität, Frauen und Männer zu ihrer Sexualität zu befragen, hat deutlich seit der Befragung […] von 1992 zugenommen“ (S. 27). Der mehrjährige Planungs- und Diskussionsvorlauf hat mit Sicherheit positive Auswirkungen auf die Konstruktion des Interviewleitfadens, die Durchführung der Interviews, ihre sorgfältige Auswertung und auf den sehr detaillierten Forschungsbericht gehabt. Forschungsleitende Fragestellungen der Erhebung waren die nach den drei wesentlichen Dimensionen von Sexualität: die Art des Sexualkontaktes, die jeweilige soziale Beziehung derer, die Sexualkontakte eingehen sowie die Bedeutungen der Sexualkontakte und der in ihrem Rahmen eingegangenen Sexualpraktiken. Im Vordergrund des Interesses standen zudem die „Faktoren, die Beziehungen zwischen Männern und Frauen strukturieren“ (S. 22) und die Lebensbedingungen der Befragten (u. a. Einkommen, Bildungsniveau, Einbindung in soziale Netzwerke, Gesundheitszustand etc.). Allein diese kurze Skizzierung der leitenden Erkenntnisinteressen der Forschungsgruppe zeigt, wie wenig diese der Gefahr eines HIV-Präventionsreduktionismus in der Konstruktion ihres Erhebungsinstrumentes unterlegen ist.

Der umfangreiche Ergebnisbericht zu der 2006 abgeschlossenen Befragung ist nicht nur beispielhaft in seiner Detailliertheit, sondern auch in seiner Übersichtlichkeit (26 Kapitel für die 15 AutorInnen verantwortlich zeichnen) und in seinem Reflexionsniveau. Sicherlich enthält der Bericht auch viele nützliche Hinweise für die verschiedenen französischen Institutionen und Nichtregierungsorganisationen, die in der HIV / Aids-Prävention engagiert sind. In erster Linie ist jedoch eine Publikation entstanden, die gleichzeitig fakten- und ideenreich ist. Der Bericht beginnt mit einer ausführlichen – fast hundertseitigen – Darstellung der methodischen Überlegungen zur Bildung der Stichprobe und Durchführung der Telefoninterviews. Unter 25-Jährige wurden überproportional berücksichtigt, ebenso – wenn auch im geringerem Umfang – 25- bis 39-Jährige, Altersgruppen, denen wegen eines unterstellten höheren sexuellen Aktivitätsniveaus besonderes Interesse entgegengebracht wurde. Durch Gewichtungsfaktoren wurden diese Altergruppen für viele Analysen entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil wieder in die gesamte repräsentative Stichprobe integriert. Gleichzeitig wurde eine Sonderstichprobe gebildet, um 3780 Männer und Frauen zu ihrem Wissensstand und zu ihrer möglichen Infektion mit Chlamydia trachomatis zu befragen. Ein Großteil dieser Befragten sandte die nach Vereinbarung erhaltenen (Selbst)Untersuchungskits zurück. Im Rahmen des Gesamtprojekts wurden zudem die Personen, die keinen Festnetzanschluss, sondern ausschließlich ein Handy hatten, als Teilgruppe mit einem verkürzten Interview berücksichtigt. Alle interviewten Personen wurden für die Dauer des Interviews gebeten, sich in einen Raum zu begeben, in dem nur sie sich aufhielten, und wenn dies nicht möglich war, sich für die Dauer des Telefongesprächs so zu positionieren, dass niemand anderes dem Gespräch zuhören konnte. Bei fast drei Viertel der Befragten war diese Vorbedingung während des Interviews gegeben, bei 22 Prozent der Männer und 13 Prozent der Frauen war der / die (Ehe)partnerIn während des Telefoninterviews im gleichen Raum, seltener waren andere Verwandte und Freunde zugegen.

Der Interviewzeitraum erstreckte sich über fast sieben Monate. Ein Team von 32 Männern und 29 Frauen führte die Interviews nach einer dreitägigen Schulung durch. Das Interviewerteam traf sich wöchentlich mit Ansprechpartnern aus der Forschungsgruppe, um Erfahrungen und Probleme zu diskutieren und Rat einzuholen. Während der Schulung und der wöchentlichen Treffs wurden bestimmte Fragen immer wieder aufgeworfen: In welchem Ausmaß können bestimmte Fragen neu formuliert werden, wenn der Gesprächspartner die Ursprungsfrage nicht versteht? Kann die / der Befragte in besonderer Weise ermutigt werden, auf Fragen zu antworten? Wie soll auf Gegenfragen der / des Befragten eingegangen werden? Wie kann mit den eigenen Reaktionen und Gefühlen umgegangen werden, wenn die Auskünfte der / des Befragten auf großes erfahrenes Leid schließen lassen? Wie wird mit Bitten um Beratung während des Interviews umgegangen?

Besonders die letzten beiden Fragen stellten sich den InterviewerInnen häufig im Themenbereich „erlebter sexueller Missbrauch während der Kindheit und erlebte sexuelle Gewalt“. Bestimmte Berichte der Befragten warfen die ethische Frage auf, ob die betroffenen Personen nach dem Interview in ihrem aufgewühlten Zustand alleine gelassen werden konnten. Diese Fragen wurden aus dem Interviewerteam schon bald mit einer solchen Eindringlichkeit gestellt, dass sich eine Psychologin aus der Forschungsgruppe regelmäßig an der wöchentlichen Interviewerbesprechung beteiligte. 

Der mehr als 600-seitige Forschungsbericht enthält eine Fülle von zuverlässig gewonnenen empirischen Daten. Im Folgenden soll vor allem auf sexualwissenschaftliche Ergebnisse eingegangen werden, während im engeren Sinne sozialepidemiologische Daten zu sexuell übertragbaren Infektionen weniger berücksichtigt werden.

Zum ersten Sexualkontakt

Bei der Analyse des ersten Sexualkontaktes werden mehrere Aspekte deutlich: der individuelle Ausgangspunkt der sexuellen Sozialisation, das gesellschaftlich geprägte Geschlechterverhältnis zum Zeitpunkt des ersten Sexualkontaktes und die Auswirkungen der gesellschaftlichen Diskurse zur Sexualität und zur öffentlichen Gesundheit. An vielen Punkten zeigen sich deutliche Generationseffekte. So fand ein öffentlicher Diskurs zum Thema Empfängnisverhütung in den 1950er Jahren kaum statt. Im Gegenteil: Empfängnisverhütung war, ebenso wie vorehelicher Verkehr, in Frankreich absolut unerwünscht. 18-Jährige konnten als Minderjährige in dieser Zeit hierzu auch gar nicht befragt werden. Die jungen Frauen der Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen geben 2006 als wichtigste Informationsquellen zur Empfängnisverhütung dagegen die Schule, das Fernsehen und ihre Mutter (in der Reihenfolge ihrer Bedeutung) an; bei jungen Männern rangieren ebenso Schule und Fernsehen auf den ersten beiden Plätzen, an dritter Stelle folgen bei ihnen Freunde / Schulfreunde. Allein diese wenigen Befunde zeigen, ich welch unterschiedlichen Welten junge Erwachsene in den 1950er und in den 1990er Jahren lebten. Der Anteil der jungen Frauen, die – bevor sie 18 wurden – bei ihren Eltern eine ausdrückliche Erlaubnis einholen mussten um auszugehen, ist sehr viel geringer als bei ihren über 60-jährigen Geschlechtsgenossinnen. Der erste Sexualkontakt erfolgt in den jüngeren Jahrgängen inzwischen deutlich früher, Unterschiede zwischen Männern und Frauen werden geringer. Bei den über 64-jährigen Männern fand der erste Sexualkontakt im Alter von (durchschnittlich) 18,8 Jahren statt, bei den 18- bis 22-Jährigen beträgt das Durchschnittsalter 17,2 Jahre. Bei den Frauen ging das Durchschnittalter von 20,6 (über 64-jährige) auf 17,6 zurück. Die Autorengruppe hebt dabei hervor, dass die Phase der sexuellen Liberalisierung um 1968 nur als Ausdruck, aber nicht als Ursache dieser Entwicklung angesehen werden kann.

Die ersten sexuellen Erfahrungen sind in der Regel heterosexuell. Nur 0,4 Prozent der Frauen und 1,4 Prozent der Männer berichten, dass ihr erster Sexualkontakt ein gleichgeschlechtlicher war. Selbst unter den Männern, die mindestens einen gleichgeschlechtlichen Kontakt in ihrer sexuellen Biografie angeben, teilen 66 Prozent mit, dass ihr erster Sexualkontakt mit einer Frau erfolgte. Männer und Frauen, die mehrere gleichgeschlechtliche Sexualkontakte hatten, begannen ihre sexuelle Biografie früher als solche, die ausschließlich über heterosexuelle Sexualkontakte berichten. Männer aus den unteren Schichten beginnen ihre sexuelle Biografie früher als Männer aus der Mittelschicht. Die Religionszugehörigkeit spielt bei ihnen in diesem Zusammenhang keine Rolle, im Gegensatz zu bestimmten Untergruppen bei den Frauen. So beginnen Muslima wegen der Bedeutung der Jungfräulichkeit bei Eintritt in die Ehe ihre sexuelle Biografie signifikant später als andere Frauen (unabhängig davon, ob sie sehr gläubig sind oder nicht). Nur bei (streng) gläubigen Christinnen hat die religiöse Bindung ebenfalls einen (wenn auch schwächeren) Effekt auf das Alter beim ersten Sexkontakt.

Der frühere erste Sexualkontakt in der jüngeren Generation und die Verlängerung der Ausbildungszeiten seit den 1970er Jahren (in allen westeuropäischen Ländern) führen dazu, dass die meisten jüngeren Befragten ihre sexuelle Biografie begannen, als sie eine Schule, Hochschule oder andere Ausbildungsinstitution besuchten (99 Prozent der Frauen und 97 Prozent der Männer in der Altersgruppe der 18- bis 19-Jährigen). Auch der Ort, an dem der erste Sexualkontakt stattfand, lässt Rückschlüsse auf den Wandel in den Einstellungen zur Sexualität zu. Während aufgrund der gesellschaftlichen Vorkehrungen gegen voreheliche Sexualität ein bedeutsamer Teil der älteren Befragten berichtet, dass ihr erster Sexualkontakt in der „freien Natur“ (Strand, Wald, Park) oder im Auto stattfand, teilen mehr als 70 Prozent der jungen Frauen und Männer mit, dass ihr erster Sexualkontakt in der elterlichen Wohnung eines der beiden Partner stattfand (oder in anderen zur Verfügung gestellten Privatwohnungen). Leicht ironisch resümiert die Autorengruppe: die jüngeren Befragten müssen nicht mehr wie die älteren „auf den öffentlichen Raum ausweichen, und sexuelle Erstkontakte in der freien Natur [‚plein air‘] nehmen unaufhaltsam ab. Die generationsspezifische Entwicklung des Kontextes der Initiation in die Sexualität drückt also weniger eine ‚sexuelle Liberalisierung‘ als eine ‚Domestizierung‘ […] aus“ (S. 133).

Bestand bei den über 60-Jährigen ein Zeitraum von durchschnittlich fast einem Jahr zwischen dem Zeitpunkt der ersten Begegnung und dem ersten Sexualkontakt, so halbiert sich dieser Zeitabschnitt bei den 50- bis 60-Jährigen auf sechs Monate (Frauen) bzw. fünf Monate (Männer); bei den jüngeren Befragten nimmt dieser Zeitraum nicht weiter ab. Während bei 68 Prozent der über 60-jährigen Frauen der erste Sexpartner zum Ehemann wurde (oder dies schon war; bei 35 Prozent der älteren Männer wurde die erste Sexpartnerin zur Ehefrau), sieht die große Mehrheit der 20- bis 24-jährigen Befragten die ersten Sexpartner als Liebhaber / Geliebte (72 Prozent der Frauen, 64 Prozent der Männer). Nur 21 Prozent der Frauen in dieser Altersgruppe sehen oder sahen in ihrem ersten Liebhaber einen zukünftigen (Ehe / Lebens-)Partner, zehn Prozent der Männer sehen oder sahen in ihrer ersten Sexpartnerin eine zukünftige (Ehe / Lebens-)Partnerin.

Geschlechtsspezifische Unterschiede

Wenn auch traditionelle geschlechtsspezifische Unterschiede (wie z. B. das Alter beim sexuellen Erstkontakt) stark abnehmen, verschwinden sie keineswegs. Während bei den Männern Selbstbefriedigung sowohl bei denen, die einen frühen Eintritt in ihre sexuelle Biografie angeben als auch bei denen, die einen späten Eintritt vermerken, zu regelmäßigen Praktiken gehört, ist dies lediglich bei Frauen mit einem frühen sexuellen Erstkontakt der Fall. Ähnlich verhält es sich mit der Einstellung, dass Sex auch ohne Liebe legitim ist. Der Anteil der Männer, die dieses bejahen, ist sehr viel höher als jener der Frauen. Die Minderheit der Frauen mit einem frühen Beginn ihrer sexuellen Biografie stimmt dem eher zu als die verbleibende Mehrheit. War noch in den 1950er Jahren für Frauen eine sexuelle Sozialisation vor der Ehe die Ausnahme, so hat seit den 1970er Jahren eine Angleichung zwischen Frauen und Männern stattgefunden, mit dem Ergebnis, dass nur noch für kleine Minderheiten (z. B. muslimische Frauen) erst die Ehe sexuelle Erfahrungen erlaubt. Diese Entwicklung geht Hand in Hand mit dem Bedeutungsverlust der Ehe. Ein Drittel der (heterosexuellen) Paare sind in Frankreich nicht verheiratet, jede dritte Ehe wird geschieden (S. 12). Die hohe Zahl der Scheidungen bewirkt, dass für eine steigende Anzahl von Personen die Chance eine(n) neue(n) PartnerIn zu finden, steigt. Die Autorengruppe schließt aus den erhobenen Daten, dass in der Altersgruppe der 25- bis 35-Jährigen für Frauen und Männer gleiche Chancen bestehen, nach einer Trennung eine(n) neue(n) PartnerIn zu finden, in höheren Altersgruppen sind die Chancen für Männer deutlich höher als für Frauen.

Viele der nach wie vor zu beobachtenden geschlechtsspezifischen Unterschiede sind nachvollziehbar, wenn als Hintergrund eine immer noch bestehende patriarchalische Gesellschaft mitgedacht wird. Ein Unterschied, der in (fast) allen großen Umfragen in Europa und in Nordamerika in den letzten Jahrzehnten festgestellt wurde, bleibt allerdings rätselhaft. Es ist die Differenz in der Durchschnittszahl der von Männern und Frauen angegebenen Sexualpartner seit Beginn der sexuellen Biografie. Sie erscheint auch in den Ergebnissen der französischen Umfrage von 2006: Als Durchschnittswert für Männer ergeben sich 11,6 Partnerinnen in der sexuell aktiven Lebenszeit, bei den Frauen sind es nur 4,4 Partner. Die Differenz im Durchschnittswert ist in den jüngeren Altergruppen geringer als in den älteren, sie bleibt jedoch bestehen. Auch wenn der Median als Messzahl verwendet wird, bleibt es dabei, dass Männer mehr als doppelt so viel Partnerinnen angeben (4,8) wie Frauen Partner (1,8). Die Forschungsgruppe hat keine Mühen gescheut, diese Differenz zu erklären. Doch auch wenn die fast nur bei Männern vorkommenden Kontakte mit Prostituierten berücksichtigt werden, ebenso die aus männlicher Renommiersucht resultierenden möglichen Überschätzungen der Zahl ihrer Sexpartnerinnen wie auch die mögliche Unterschätzung der Zahl ihrer Sexualpartner durch die befragten Frauen: insgesamt kommt die Forschungsgruppe zu dem Schluss, dass all die herangezogenen Faktoren eher geringe Anteile der Differenz erklären, aber keineswegs geeignet sind, diese in ihrem ganzen Ausmaß nachvollziehbar zu machen. Die geschlechtsspezifischen Differenzen sind deutlich geringer, wenn die Durchschnittswerte für die zwölf Monate vor der Befragung betrachtet werden. Die befragten Frauen hatten im Durchschnitt 1,1 Partner, die befragten Männer 1,23 Partnerinnen. Dies bedeutet eine leichte Zunahme bei den Frauen im Vergleich zu der Befragung von 1992, während der Wert für die Männer stabil geblieben ist. Insgesamt ist bis in die 1980er Jahre eine Zunahme der durchschnittlichen Partnerzahlen zu beobachten, vor allem bei den sexuell besonders aktiven Altersgruppen zwischen 18 und 39 Jahren. Die Zunahme ist nicht mehr für die Altersgruppen zu verzeichnen, die ihre sexuelle Biografie nach 1985 begonnen haben, die Autorengruppe deutet dies als Effekt der Aids-Epidemie (S. 220). Neben den geschlechts- und altersspezifischen Differenzen erweist sich – vor allem für die über 50-Jährigen – die religiöse Bindung als Einflussfaktor. Die älteren Befragungsteilnehmer, die über eine starke religiöse Bindung berichten, geben sowohl unter Männern als auch unter Frauen nur halb so viele Sexpartner an wie die religiös nicht gebundenen. Bemerkenswert ist die Sonderstellung der religiös gebundenen muslimischen Männer in der Altersgruppe der 35- bis 49-Jährigen. Sie geben überdurchschnittlich viele Sexpartnerinnen an, während bei ihren Glaubensschwestern der Median bei einem Sexpartner liegt (S. 223).

Befragte mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten

Gleichgeschlechtliche Sexualkontakte in einer repräsentativen Telefonbefragung zu erheben, bleibt angesichts der weiter bestehenden Stigmatisierung von Homosexuellen und Homosexualität ein schwieriges Unterfangen. Es kann deshalb nach wie vor von einem „underreporting“ ausgegangen werden. In der Regel gaben in früheren Befragungen in Europa und in Nordamerika Frauen zu einem geringeren Anteil gleichgeschlechtliche Sexualkontakte an als Männer. Dies ist in der französischen Befragung von 2006 nicht mehr der Fall: Jeweils vier Prozent der Frauen und der Männer geben an, mindestens einen gleichgeschlechtlichen Sexualkontakt im Laufe ihre Lebens eingegangen zu sein. In der Befragung von 1992 in Frankreich betrug der Anteil 2,6 Prozent bei den Frauen und 4,1 Prozent bei den Männern. Bezogen auf die letzten zwölf Monate vor der Befragung geben 0,8 Prozent der Frauen (1992: 0,3 Prozent) und 1,5 Prozent der Männer (1992: 1,1 Prozent) mindestens einen gleichgeschlechtlichen Sexualkontakt an. Dieser Prozentsatz ist alters- und geschlechtsspezifisch: 1,4 Prozent der 18- bis 34-jährigen Frauen geben 2006 mindestens einen gleichgeschlechtlichen Sexualkontakt in den zwölf Monaten vor der Befragung an, bei den 50- bis 69-jährigen Frauen sind dies 0,2 Prozent; 2,1 Prozent der 18- bis 34-jährigen und 0,6 Prozent der 50- bis 69-jährigen Männer teilen mindestens einen gleichgeschlechtlichen Sexkontakt für diesen Zeitraum mit. Über ein Zehntel der Frauen und Männer, die über gleichgeschlechtliche Sexkontakte in ihrem bisherigen Leben berichten, hatte diese ausschließlich im Alter vor 18 Jahren. Sich angezogen fühlen durch Personen des eigenen Geschlechts ist nicht gleichbedeutend mit gleichgeschlechtlicher sexueller Praxis. 6,2 Prozent der Frauen und 3,9 Prozent der Männer geben an, sich schon einmal von einer Person des eigenen Geschlechts angezogen gefühlt zu haben. Diese Anteile sind schicht- und bildungsabhängig: Bei Frauen und Männern mit einem Hochschulabschluss sind sie fast doppelt so hoch. Ungefähr ein Drittel der Frauen und fast die Hälfte der Männer, die eine Anziehung durch eine Person des eigenen Geschlechts angeben, gingen keine gleichgeschlechtlichen Sexualkontakte ein.

Ein erheblicher Anteil der Frauen und Männer mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten gibt auch heterosexuelle Kontakte an. Personen mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten haben im Durchschnitt mehr SexualparterInnen als Personen mit ausschließlich andersgeschlechtlichen Kontakten. Frauen mit gleichgeschlechtlichen Kontakten hatten im Leben durchschnittlich neun Sexualpartner und drei Sexualpartnerinnen, Männer hatten 35 Sexualpartner und neun Partnerinnen. Personen mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten beginnen ihre sexuelle Biografie früher als Personen mit ausschließlich andersgeschlechtlichen Kontakten, ihr Repertoire an ausgeübten Sexualpraktiken ist zudem breiter. Zwei Drittel der Personen mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten hatten mehr als eine SexualpartnerIn in den zwölf Monaten vor der Befragung, dieser Anteil beläuft sich bei heterosexuellen Frauen auf sieben Prozent, bei heterosexuellen Männern zwölf Prozent. Ein Drittel der Männer, die in einer Beziehung mit einem Mann leben, berichten über Sexkontakte außerhalb ihrer Beziehung; bei Männern, die eine Beziehung mit einer Frau haben, sind es lediglich 3,5 Prozent. Homo- und bisexuelle Frauen (25 Prozent) und Männer (42 Prozent) haben deutlich häufiger schon eine(n) (Sex-)Partner über das Internet gefunden als heterosexuelle Frauen und Männer (drei bzw. vier Prozent). Rund ein Viertel der Männer und ein Fünftel der Frauen, die gleichgeschlechtliche Sexualkontakte in den zwölf Monaten vor der Befragung angeben, leben in einer Beziehung mit einem gleichgeschlechtlichen Partner. 41 Prozent der homo- und bisexuellen Frauen leben in einer Beziehung mit einem Mann, zwölf Prozent der homo- und bisexuellen Männer haben eine Beziehung mit einer Frau. Diese Daten zeigen, dass mit der französischen Repräsentativbefragung eine andere Gruppe von Männern mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten erreicht wurde als in den in Frankreich (und Deutschland) seit Mitte der 1980er Jahre durchgeführten Befragungen von schwulen Männern. Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich liegt in diesen Befragungen der Anteil der Männer, die in einer festen Beziehung leben, über 50 Prozent, weniger als fünf Prozent leben zum Zeitpunkt der Befragung in einer Beziehung mit einer Frau. In der französischen Schwulenbefragung von 2007 definierten sich 90 Prozent der Befragten als homosexuell oder schwul (gay), gegenüber 50 Prozent der Männer, die in der Repräsentativbefragung von 2006 gleichgeschlechtliche Sexualkontakte in den zwölf Monaten vor der Befragung angeben. Diese Unterschiede legen nahe, die Ergebnisse der Befragung zu gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten nur mit großer Vorsicht als repräsentative Aussage zu den Lebensweisen von schwulen Männern und lesbischen Frauen in Frankreich zu werten. Es zeigt sich erneut ein Paradox, das schon im Rahmen der Repräsentativbefragung von 1992 zu beobachten war. Beide Repräsentativbefragungen geben nur ein unvollständiges Bild zu den Lebensbedingungen von homo- und bisexuellen Frauen und Männern. Die großen „Convenience-Samples“ der Schwulenbefragungen liefern eher exemplarische Ergebnisse als die Repräsentativbefragungen. Wie in Deutschland wurden auch in Frankreich keine großangelegten Befragungen von homo- und bisexuellen Frauen unternommen. Ein Vergleich kann also nur mit den Ergebnissen der im Rahmen der HIV / Aids-Prävention durchgeführten Befragungen homo- und bisexueller Männer erfolgen. Dennoch finden sich auch in der französischen Repräsentativbefragung von 2006 Hinweise zu den besonderen Lebensbedingungen homo- und bisexueller Männer. Männer mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten teilen diese eher mit, wenn sie Abitur oder eine (Fach)Hochschulausbildung haben, wenn sie als Angestellte auf mittleren oder höheren Positionen im Dienstleistungsbereich (Handel, Banken und Versicherungen), als Freiberufler, im Bildungs- und Gesundheitssystem u. ä. arbeiten und weniger, wenn sie als Arbeiter oder in landwirtschaftlichen Berufen tätig sind (ähnliches gilt für die homo- und bisexuellen Frauen, die sich an der französischen Befragung beteiligten). Befragte mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten wohnen häufiger in Großstädten mit mehr als 100 000 Einwohnern als Befragte, die ausschließlich heterosexuelle Kontakte angeben.

Wie schon erwähnt, interessiert sich die französische Studie nicht nur für Sexualpraktiken, die Frequenz von Sexualkontakten oder Partnerzahlen. Das Kapitel über die gleichgeschlechtlichen Sexualkontakte der Befragten (S. 243–271) befasst sich ausführlich auch mit den Einstellungen zur Homosexualität in der französischen Bevölkerung. Für 60 Prozent der Frauen und 48 Prozent der Männer sind homosexuelle Kontakte eine Form von Sexualität wie heterosexuelle Kontakte auch. Eine widernatürliche Sexualität stellt Homosexualität für 27 Prozent der Männer und 17 Prozent der Frauen dar, ein psychologisches Problem für zwölf Prozent der Männer und zehn Prozent der Frauen. Wie in anderen Befragungen auch, zeigt sich, dass die Akzeptanz oder Nicht-Akzeptanz von homosexuellen Menschen ungleich verteilt ist. Nur für 41 Prozent der über 59-jährigen Frauen ist Homosexualität eine Sexualität wie andere auch und lediglich für 30 Prozent der Männer in dieser Altersgruppe. Dagegen ist Homosexualität für 47 Prozent der Frauen in dieser Altersgruppe widernatürlich oder ein psychologisches Problem, 62 Prozent der älteren Männer sind dieser Auffassung. Lediglich 15 Prozent der jungen Frauen in der Altersgruppe von 18 bis 24 schließen sich dieser Meinung an, aber immerhin 30 Prozent der jungen Männer. In der Sicht der Forschungsgruppe zeigen diese Ergebnisse, dass die französische Gesellschaft noch weit von einer umstandslosen Akzeptanz homosexueller Menschen entfernt ist. Die Akzeptanz ist höher bei Frauen und Männern, die homosexuelle Menschen kennen; sie ist ebenfalls deutlich höher bei Personen mit einem Hochschulabschluss. Die Akzeptanz nimmt deutlich ab, wenn es um die mögliche Elternschaft homosexueller Menschen geht. Ungefähr die Hälfte der Befragten würde akzeptieren, dass ein Frauenpaar Kinder großzieht, bei einem Männerpaar ist es etwas mehr als ein Drittel. Heterosexuelle Paare, die Kinder haben, lehnen die Elternschaft homosexueller Paare stärker ab als kinderlose heterosexuelle Paare. Die AutorInnen verweisen in diesem Zusammenhang auf den französischen Anthropologen Maurice Godelier, der anmerkte, dass von vielen Franzosen die Elternschaft homosexueller Paare als subversive, ja terroristische Praktik wahrgenommen wird, die die Grundlage der Gesellschaft selbst angreife (S. 260). Auch in einem weiteren Ergebnis sieht die Forschungsgruppe die noch immer marginalisierte Stellung homo- und bisexueller Menschen bestätigt: 45 Prozent der Frauen mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten berichten von sexuellen Belästigungen (erzwungene Sexualkontakte oder Versuche), bei den heterosexuellen Frauen geben dies nur 15 Prozent an; bei Männern mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten beträgt der Anteil 24 Prozent, bei heterosexuellen Männern vier Prozent. Zusammenfassend merken die AutorInnen an, dass nach wie vor ein gesellschaftlicher Druck zu einer heterosexuellen Normalbiografie bestehe. Viele homosexuelle Frauen und Männer fühlten sich entweder zu heterosexuellen Beziehungen genötigt, oder zu besonderen biografischen Pfaden, die sie in als toleranter erhoffte Milieus führen. Der verspürte Zwang, die eigene Homosexualität zu verheimlichen, führe besonders jüngere homosexuelle Männer und Frauen dazu, sich in den Schutz der Anonymität des Internets zu begeben.

Verbreitete Sexualpraktiken

Die generationsspezifische Zunahme der Partnerzahlen und die Angleichung der sexuellen Lebensstile zwischen Frauen und Männern geht mit einer Verbreiterung des Spektrums der ausgeübten Sexualpraktiken einher: „Orale Sexpraktiken, Cunnilingus und Fellatio, werden zu gleichen Anteilen von Frauen und Männern angegeben. In den 1970er und 1980er Jahren haben sie eine spektakuläre Verbreitung erfahren, die sich in den 1990er und 2000er Jahren fortgesetzt hat“ (S. 275). Der Vergleich der Ergebnisse der Repräsentativbefragungen von 1992 und 2006 belegt diese deutliche Zunahme. So gaben 1992 noch die Hälfte der Frauen in der Altergruppe zwischen 55 und 69 Jahren an, noch nie Fellatio praktiziert zu haben; 2006 geht dieser Anteil auf 29 Prozent zurück. Anders verhält es sich mit analgenitalen Kontakten. 1992 erklärten 24 Prozent der Frauen und 30 Prozent der Männer, sie zumindest gelegentlich praktiziert zu haben, 2006 steigen die jeweiligen Anteile auf 37 und 45 Prozent. Diese Sexualpraktik, von den französischen Autoren zuweilen kurioserweise noch als „Sodomie“ (S. 275) bezeichnet, bleibt allerdings eher eine Ausnahme. Lediglich zwölf Prozent der unter 50-jährigen Frauen und 15 Prozent der Männer in dieser Altersgruppe berichten, in den zwölf Monaten der Befragung analgenitale Kontakte manchmal oder öfter eingegangen zu sein.

Bei aller beobachteten Ausdifferenzierung des Repertoires an Sexualpraktiken unter heterosexuellen Frauen und Männern bleibt es bei der Dominanz des Vaginalverkehrs (S. 365). Über diesen wurde von allen Befragten berichtet, die in ihrem Leben überhaupt Sexualkontakte hatten, und zwar u. a. von denen, die auch gleichgeschlechtliche Kontakte hatten. In der Bewertung der Praktiken gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede. Für eine Mehrheit von 44 Prozent der Frauen ist der Austausch von Zärtlichkeiten die bevorzugte Sexualpraktik, gefolgt von 41 Prozent, die die Penetration der Vagina bevorzugen. Bei den Männern hingegen geben nur 35 Prozent den Austausch von Zärtlichkeiten als bevorzugte Praktik an, 49 Prozent nennen die Penetration. Allerdings zeigen sich insbesondere bei den Frauen auch Alterseffekte: die unter 34-jährigen bevorzugen hier ebenfalls häufiger den Vaginalverkehr. Fellatio schließlich ist die bevorzugte Sexualpraktik bei einer ungefähr gleich großen Minderheit von Frauen (13 Prozent) und Männern (zwölf Prozent).

21 Prozent der Frauen und 14 Prozent der Männer lassen sich ihrem Partner oder ihrer Partnerin zuliebe auf bestimmte Sexualpraktiken ein, ohne selbst einen großen Lustgewinn daraus zu ziehen. Für beide Geschlechter sind es vor allem orale Sexpraktiken, die dem Partner zuliebe ausgeübt werden. Eine kleine Gruppe von Männern nennt in diesem Zusammenhang auch den Austausch von Zärtlichkeiten, eine kleine Gruppe von Frauen analgenitale Kontakte (S. 366). Zusammenfassend konstatieren die AutorInnen, dass für eine große Mehrheit der (heterosexuellen) Befragten der Sexualakt als ein Kontakt wahrgenommen wird, der zu einer vaginalen Penetration führen muss (S. 367).

Selbstbefriedigung wird weiterhin sehr viel häufiger von Männern praktiziert. Sie stellt für die meisten von ihnen die erste Begegnung mit ihrer Sexualität dar und wird von der Hälfte bis in die Altersgruppe der über 40-Jährigen hinein regelmäßig praktiziert; in den höheren Altersgruppen nimmt ihre Frequenz ab. Dagegen erklärt die Hälfte der 18- bis 24-jährigen Frauen, noch nie masturbiert zu haben, bei den 25- bis 49-Jährigen fällt der Anteil auf ein Drittel.

Die Zahl der Sexualpartner hat einen Einfluss auf die Breite des Sexualrepertoires: Je höher sie ist, desto unterschiedlicher sind die Praktiken. Ein deutlicher Rückgang der sexuellen Aktivität ist bei Frauen über 50 zu beobachten, bei Männern setzt dieser Rückgang 10 Jahre später ein, also bei den über 60-jährigen. Und auch wenn es banal klingt, verdient dieses Ergebnis, festgehalten zu werden: Die monatliche Frequenz der Sexualkontakte steht in einem Zusammenhang mit der Zufriedenheit mit der eigenen Sexualität. Die Hälfte der Frauen, die durchschnittlich weniger als sieben Sexualkontakte im Monat haben, erklärt sich sehr zufrieden mit ihrem Sexualleben, bei den Frauen mit mehr als 11 Sexualkontakten im Monat sind es zwei Drittel (S. 326). Bei den Männern ist eine ähnliche Tendenz zu beobachten.

Prostitutive Kontakte

Die leichtere Zugänglichkeit von vor- und außerehelichen Sexualkontakten im Vergleich zu den 1950er und 1960er Jahren führt bei Männern nicht zu einem Rückgang der Sexualkontakte gegen Bezahlung. Gaben 1992 3,3 Prozent der Männer an, in den fünf Jahren vor der Befragung die Dienste einer Prostituierten beansprucht zu haben, sind es 2006 3,1 Prozent. Der Anteil der Männer, die jemals für Sex bezahlt haben, nimmt mit dem Alter zu. 6,1 Prozent der 20- bis 24-Jährigen haben mindestens einmal für Sex bezahlt, bei den 60- bis 69-Jährigen sind es 30 Prozent. Der Rückgriff auf Kontakte mit Prostituierten ist allerdings bei den Älteren nicht häufiger als bei den Jüngeren. Fünf Prozent der 20- bis 34-Jährigen geben an, diese in den fünf Jahren vor der Befragung beansprucht zu haben, bei den 50- bis 59-Jährigen sind es drei Prozent und bei den 60- bis 69-Jährigen ein Prozent.

Sexueller Missbrauch und sexuelle Gewalt

Erst 1980 wurde in Frankreich ein Gesetz verabschiedet, das den Tatbestand der Vergewaltigung präzisierte und auch erzwungenen Geschlechtsverkehr in der Ehe strafbar machte. Es dauerte einige Jahre, bis das Anzeigeverhalten den neuen juristischen Möglichkeiten entsprach. Gab es in Frankreich im Jahr 1972 etwa 1400 Anzeigen wegen Vergewaltigung, so stieg diese Zahl auf ca. 2200 im Jahr 1981 und auf ca. 7300 im Jahr 1995. Seit 2001 schwankt die Zahl der Anzeigen um 10 000 im Jahr. Die Ergebnisse der Erhebung zeigen, dass Frauen dreimal mehr von sexuellen Übergriffen betroffen sind als Männer. Von sexuellen Belästigungen / Übergriffen berichten 13 Prozent der Frauen und vier Prozent der Männer, von erlebten Versuchen eines erzwungenen Sexualkontaktes berichten neun Prozent der Frauen und drei Prozent der Männer, von erzwungenen Sexualkontakten sieben Prozent der Frauen und 1,5 Prozent der Männer. Sexuelle Belästigungen / Übergriffe erfolgten bei der Hälfte der Frauen und Männer in ihrer Kindheit (bis zum Alter von 10 Jahren). Ereigneten sich erzwungene Sexualkontakte (auch versuchte Übergriffe) mehrfach, so war es bei neun Zehnteln der Frauen und Männer derselbe Täter. Zwei Drittel der Frauen und Männer erlitten diese erzwungenen Sexualkontakte, als sie jünger als 18 Jahre waren. Während bei den in ihrer Jugend missbrauchten Frauen eine Mehrzahl der Täter aus dem Umkreis der Familie (Väter, Stiefväter, Brüder) und des Freundeskreises kommt, sind die Täter bei den Männern häufiger Unbekannte. Für 46 Prozent der Frauen und 62 Prozent der Männer stellte das Interview die erste Gelegenheit in ihrem Leben dar, über die erlebte sexuelle Gewalt zu reden. Frauen kommunizierten am ehesten über die erlebte sexuelle Gewalt mit einem Familienmitglied, nur neun Prozent der Frauen ziehen dazu einen Arzt ins Vertrauen, nur vier Prozent der Taten werden von ihnen bei der Polizei angezeigt. Lediglich 0,6 Prozent der Männer zeigten die erlittene sexuelle Gewalt bei der Polizei an. Die betroffenen Männer schweigen in einem viel höheren Ausmaß als Frauen darüber, was ihnen widerfahren ist (S. 394). Auch wenn das Anzeigeverhalten bei Frauen in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat, bleibt ein hoher Anteil der erlitten sexuellen Gewalt unerkannt. Aufgrund ihrer Daten berechnet die Forschungsgruppe, dass in den 12 Monaten vor der Umfrage zwischen 36 000 und 90 000 Frauen Opfer sexueller Gewalt geworden sind. Angezeigt wurden in Frankreich im Jahr 2005 jedoch nur 9993 Taten (S. 399). Die Zunahme in den Anzeigen sexueller Gewalt führt demzufolge keineswegs zur Beseitigung des großen Dunkelfeldes, das nach wie vor besteht, sondern allenfalls zu seiner Verkleinerung.

Ausblick

Diese ausführliche Zusammenfassung mag genügen, um nicht die Grenzen einer Rezension zu sprengen. Ausgeblendet bleiben interessante Ergebnisse zum altersspezifischen Gebrauch von Viagra bei Männern und zu den Strategien eines bedeutsamen Teils von ihnen, ihren Sexpartnerinnen den Gebrauch von Viagra zu verheimlichen. Nicht erwähnt wurden die Analysen zu den verschiedenen Personengruppen, die keine Sexualkontakte in den zwölf Monaten vor der Befragung oder einen noch längeren Zeitraum hatten, ebenso das Wechselverhältnis zwischen Sexualität und chronischen Krankheiten und die physiologischen und psychischen Probleme, die sich bei der Aufnahme sexueller Kontakte ergeben.

Der Autorengruppe ist mit diesem Bericht eine gedankenreiche Publikation gelungen, die nicht in Datenwüsten und Deutungsarmut versinkt, sondern immer die tägliche Lebenspraxis ihrer Befragten vor Augen hat. Der renommierte französische Anthropologe Maurice Godelier bringt es in seiner lesenswerten Einleitung zu der umfangreichen Studie auf den Punkt: „Es handelte sich nicht darum, eine Zählung vorzunehmen, sondern wirklich die sozialen Logiken zu erforschen, die die Ausübung von Sexualität strukturieren und die gelebten Erfahrungen der Akteure“ (S. 9). Sexualität ist nicht konfliktloser als früher – so Godelier – aber es sind heutzutage andere Konflikte, um die es geht. Die traditionellen Konflikte waren von den Geboten der Keuschheit und Jungfräulichkeit vor der Ehe dominiert und die Ehe stand unter der moralischen Norm der Fruchtbarkeit. Aus dem Gebot der Fruchtbarkeit leiteten sich sowohl das Verbot der Onanie als auch das der „widernatürlichen“ Homosexualität ab. Diese Gebote und Verbote haben keine Verbindlichkeit mehr für die große Mehrheit der Franzosen, auch für die Mehrheit der praktizierenden Katholiken, sie scheinen nur noch für eine Mehrheit der französischen Muslime zu gelten. Das häufige Vorkommen sexueller Gewalt, die sexuellen Konflikte in Paarbeziehungen und die starke Ablehnung homosexueller Menschen durch eine bedeutsame Minderheit von Franzosen zeigen jedoch, dass die Sexualität zwar in liberaler Weise „domestiziert“ aber keineswegs befreit wurde. Auf diese Weise spiegelt die Sexualität immer ein Bild des Zustands der jeweiligen Gesellschaft. Nach Godelier funktioniert sie wie eine „bauchrednerische Maschine“ einer Vielzahl von sozialen Beziehungen zwischen den Geschlechtern und zwischen Personengruppen (S. 16).

Michael Bochow (Berlin)

  • 1 Bajos Nathalie, Bozon Michel und. Enquête sur la sexualité en France. Pratiques, genre et santé.. Mit einem Vorwort von Maurice Godelier. Paris: Editions La Découverte; 2008. 609 Seiten, mit Abbildungen, EUR 27.–
  • 2 Stoller Robert J.. Sweet Dreams. Erotic Plots.. London: Karnac; 2009. XI, 249 Seiten, EUR 26,99
  • 3 Wendt Eva-Verena. Sexualität und Bindung. Qualität und Motivation sexueller Paarbeziehungen im Jugend- und jungen Erwachsenenalter.. Weinheim: Ju­venta; 2009. 244 Seiten, mit graph. Darst., EUR 23,00
  • 4 Torelli Manuela. Psychoanalyse lesbischer Sexualität.. Mit einem Vorwort von Christa Rohde-Dachser (Reihe: Bibliothek der Psychoanalyse). Gießen: Psychosozial-Verlag; 2008. 327 Seiten, EUR 39,90
  • 5 Müller Anne-Janine. Pornographie im Diskurs der Wissenschaft. Zwischen „sprechendem Sex“ und Medienvermittlung.. Berlin: LIT 2010; (Reihe: (Beiträge zur Kommunikationstheorie; Bd. 28) ). 468 Seiten, EUR 39,90

1 vgl. Spira A, Bajos N et al. Les comportements sexuels en France. Paris: La documentation francaise 1993

2 Sämtliche Zitate wurden vom Rezensenten ins Deutsche übertragen.

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