Zusammenfassung
Fragestellung: Zur Steigerung der Patientensicherheit haben deutsche Krankenhäuser in den vergangenen
Jahren verschiedene Maßnahmen des klinischen Risikomanagements eingeführt. Besondere
Bedeutung kommt dem Einsatz von Critical Incident Reporting Systemen (CIRS) zu, die
als Instrument zur Identifizierung von Risiken im Versorgungsalltag ein hohes Potenzial
für organisationales Lernen versprechen. Mit einer Befragung von 341 Kliniken im Jahr
2009 sollte Einblick in den aktuellen Stand der Implementierung von CIRS im Vergleich
zu anderen Maßnahmen des klinischen Risikomanagements gewonnen werden. Dabei wurde
eine Prozesskette abgefragt, welche die Risikostrategie, Methoden der Risikoidentifizierung,
Risikoanalyse und ‐bewertung bis zur Risikosteuerung und ‐überwachung abdeckt. Material und Methoden: Im Rahmen strukturierter Telefoninterviews wurden im Jahr 2009 insgesamt 341 Kliniken
in Deutschland befragt, in deren Qualitätsbericht zum Berichtsjahr 2006 zuvor definierte
Schlüsselbegriffe als Indikatoren zur erfolgten bzw. geplanten Einführung eines klinischen
Risikomanagements identifiziert wurden. Als zentrale Fragestellung sollte diese Untersuchung
prüfen, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß sowie der Ausgestaltung des selbst
berichteten Risikomanagements mit der Trägerschaft und/oder der Größe der antwortenden
Kliniken gibt. Ergebnisse: Die Einführung von Fehlermeldesystemen (CIRS) stieg seit dem Jahr 2004 kontinuierlich:
54 % der befragten Häuser berichteten zum Zeitpunkt der Befragung über ein implementiertes
CIRS, davon 72 % über ein klinikweites System. Dabei war eine Assoziation mit der
Trägerschaft nicht nachzuweisen (Fisher p = 1,000), der Einsatzgrad von CIRS nahm
jedoch mit der Bettenzahl statistisch signifikant zu (Fisher p = 0,008): Die Implementierung
eines CIRS berichteten 38 % der Häuser mit weniger als 100 Betten gegenüber 52 % der
Häuser mit 100 bis 500 Betten bzw. 67 % der Häuser mit mehr als 500 Betten. 62 % der
Kliniken berichteten das Vorhalten eines für das Risikomanagement zuständigen Gremiums.
Allerdings benannten nur 14 % der Kliniken konkrete Methoden, welche im jeweiligen
Haus zur Risikoanalyse eingesetzt werden. Weiter benannten 92 % der befragten Häuser
Optimierungspotenziale im klinischen Risikomanagement für ihr Haus; 44 % kommunizierten
darüber bereits mit externen Beratern. Schlussfolgerung: Während die Identifizierung von Risiken durch CIRS und andere Meldesysteme zunehmend
Verbreitung findet, wird das Lernpotenzial aus Melderegistern von Ereignissen noch
nicht ausgeschöpft. Es besteht Nachholbedarf im Hinblick auf eine systematische Analyse
von Risiken, deren Bewertung und Steuerung; dies wird nur über eine bessere Verankerung
in der Organisationsstruktur der Krankenhäuser zu erreichen sein.
Abstract
Purpose: In the last years, German hospitals have implemented different measures to increase
patient safety. Special importance has been attached to near miss reporting systems
(critical incident reporting system, CIRS) as instruments for risk identification
in health care, instruments that promise high potential for organisational learning.
To gain insight into the current status of critical incident reporting systems and
other instruments for clinical risk management, a survey among 341 hospitals was carried
out in 2009. Questions covered a process of six steps: from risk strategy to methods
for risk identification, to risk analysis and risk assessment, to risk controlling
and risk monitoring. Material and Methods: Structured telephone interviews were conducted with 341 German hospitals, featuring
in their statutory quality reports certain predefined key terms that indicated the
concluded or planned implementation of clinical risk management. The main objective
of those interviews was to check the relation between status/organisation of self-reported
risk management and both operator (private, public, NPO) and size of hospital. Results: The implementation of near miss reporting systems (CIRS) in German hospitals has
been constantly rising since 2004: in 2009, 54 % of the interviewed hospitals reported
an implemented CIRS; of these, 72 % reported the system to be hospital-wide. An association
between CIRS and private, public or NPO-operator could not be detected (Fisher p = 1.000);
however, the degree of CIRS implementation was significantly increasing with the size
of the hospital, i.e., the number of beds (Fisher p = 0.008): only 38 % of the hospitals
with less than 100 beds reported CIRS implementation against 52 % of those between
100 to 500 beds, and 67 % of those with more than 500 beds. While 62 % of the hospitals
interviewed reported the maintenance of a risk management committee, only 14 % reported
the implementation of risk analysing techniques. As to clinical risk management, 92 %
of the hospitals see potential for internal improvement; 44 % have already communicated
with external consultants. Conclusion: While identification of clinical risks with near miss and other incident reporting
systems meets increasing acceptance, the learning potential based on incident reporting
is not yet appropriately being used. There is a deficit regarding systematic and comprehensive
risk assessment and controlling; this will have to be met by improving the organisational
framework for clinical risk management.
Schlüsselwörter
Risikomanagement - CIRS - Haftungsrisiken - lernende Organisation
Key words
clinical risk management - critical incident reporting system - liability risks -
learning organisation
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Prof. Dr. Sabine Bohnet-Joschko
Forschungsgruppe Management im Gesundheitswesen Universität Witten/Herdecke
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