NOTARZT 2011; 27(2): 68-69
DOI: 10.1055/s-0030-1266054
Fortbildung
Der toxikologische Notfall
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Lebensmüde Bäckerin

F.  Martens1
  • 1Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow Klinikum, Klinik für Nephrologie und internistische Intensivmedizin (komm. Direktoren: Prof. Dr. A. Jörres und Prof. Dr. R. Schindler)
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Publication Date:
08 April 2011 (online)

Der Fall

Der Notarzt wird durch den RTW nachalarmiert mit dem Hinweis „Schwere Vergiftung”. Im ersten Stock über einer Bäckerei hatte ein Mann seine Lebensgefährtin mit lallender Sprache und rasch zunehmender Müdigkeit in der gemeinsamen Wohnung entdeckt. Da beide wenige Stunden zuvor nach einem Streit auseinander gegangen waren, vermutete der Mann eine Vergiftung und alarmierte den Rettungsdienst.

Beim Eintreffen der Rettungsassistenten konnten diese die Patientin noch erwecken, jedoch waren ihre verbalen Äußerungen völlig unverständlich. Der Blutdruck betrug 130 / 55 mm Hg, die Herzfrequenz 110 / min, die pulsoxymetrisch gemessene Sättigung lag unter Raumluft bei 96 %, die Blutglukose lag mit 115 mg / dl im Normalbereich. Bei der gemeinsamen Untersuchung der Wohnung mit dem Lebenspartner der Patientin fand ein Rettungsassistent in einer Schreibtischschublade leere Tablettenblister zweier unterschiedlicher Präparate, die ursprünglich 100 Tabletten enthalten hatten. Da die Patientin während der Anwesenheit der Rettungsassistenten rasch eintrübte und Zuckungen der Extremitäten entwickelte, wurde der Notarzt nachalarmiert.

Bei dessen Eintreffen sah er eine inzwischen komatöse, knapp 50-jährige Frau, die im Abstand weniger Sekunden an allen 4 Extremitäten zuckte. Nach Legen zweier Venenverweilkanülen und Gabe von Midazolam sistierten die Zuckungen und er intubierte die Patientin ohne weitere Medikation. Die Aufschriften der leeren Tablettenblister ergaben, dass diese früher 10 000 mg Amitriptylin enthalten hatten. Daher wurde nach Anschluss an den Notfallventilator eine Magensonde gelegt und darüber 50 g Aktivkohle, aufgeschwemmt in Wasser, verabreicht. Im inzwischen angeschlossenen EKG-Monitor war ein tachykarder Rhythmus (132 / min) mit verbreiterten Kammerkomplexen sichtbar. Ein EKG mit 12 Ableitungen zeigte das gleiche Bild eines ventrikulären Rhythmus ohne Repolarisationsstörungen. Der Blutdruck war nach Midazolamgabe und möglicherweise als Intoxikationsfolge auf 70 / 30 mm Hg gefallen. Da nach rascher Infusion von 1000 ml isotonischer NaCl-Lösung keine Verbesserung des Blutdrucks zu messen war, begann der Notarzt mit der kontinuierlichen Gabe von Noradrenalin über einen Perfusor und begleitete die Patientin in die Klinik.

Bei Aufnahme sahen wir eine komatöse Frau mit einer Herzfrequenz um 120 / min, im Monitor unverändert verbreiterte QRS-Komplexe (0,16 s), mit niedrigem Blutdruck trotz vorheriger Volumengabe und kontinuierlicher Noradrenalingabe von inzwischen 2,5 mg / h.

Beide Pupillen waren maximal weit und lichtstarr. Kurz nach Übernahme trat ein tonisch-klonischer Krampfanfall auf, der nach erneuter Midazolamgabe sistierte. In der ersten arteriellen Blutgasanalyse bestand eine metabolische Azidose mit einem pH von 6,9, am ehesten verursacht durch eine ausgeprägte Laktatvermehrung. Trotz weiterer Volumengabe und Steigerung der Noradrenalindosis sank der Blutdruck weiter bis auf einen Tiefstwert von 50 / 30 mm Hg. Daher entschlossen wir uns zur Gabe einer Lipidlösung, zunächst als Bolus von 150 ml und danach 350 ml über eine Stunde. In den nachfolgenden 2 Stunden stieg der Blutdruck deutlich an und das Noradrenalin konnte innerhalb von 6 Stunden ausgeschlichen werden. Die QRS-Verbreiterung im EKG war ebenfalls rückläufig und die Herzfrequenz sank auf 100 / min. Der Tubus wurde von der komatösen Patientin in den folgenden 2 Tagen ohne weitere Analgosedation toleriert. Am 3. Tag nach Aufnahme reagierte die Patientin auf Ansprache mit Augenöffnen. Als sie dann auch einfache motorische Aufforderungen befolgte, wurde sie bei gutem Gasaustausch und niedrigem FiO2 (25 %) extubiert. In den Stunden danach entwickelte sie ein delirähnliches Bild mit Tachykardie, Blutdruckanstieg, Fieber und inspiratorischem Stridor. Da sich trotz Masken-CPAP und Clonidininfusion der Gasaustausch verschlechterte, wurde die Patientin erneut intubiert und beatmet. Ein radiologisch gesehenes Infiltrat und der Nachweis von Staph. aureus und H. influenzae im Trachealsekret begründeten den Verdacht einer Pneumonie. Unter antibiotischer Behandlung waren Fieber und Entzündungszeichen regredient und bei wieder guter Lungenfunktion erfolgte nach weiteren 5 Beatmungstagen erneut die Extubation, die die Patientin nach anfänglicher Heiserkeit gut überstand. Zwei Tage danach sprach sie mit unserem Psychiater, der rezidivierende Depressionen in der Vorgeschichte eruierte. Aktuell bestand ein Konflikt mit dem Lebenspartner, von dem sie sich in der gemeinsamen Bäckerei zu wenig unterstützt fühlte. Die vom Psychiater zum Ausschluss struktureller Läsionen angeregte MRT-Untersuchung des Schädels ergab einen Normalbefund. Am Folgetag verlegten wir die Patientin zur Behandlung ihrer Depression in eine psychiatrische Klinik.

Literatur

Priv.-Doz. Dr. Frank Martens

Charité, Campus Virchow Klinikum, Klinik für Nephrologie und internistische Intensivmedizin

Augustenburger Platz 1

13353 Berlin

Email: frank.martens@charite.de