Zeitschrift für Palliativmedizin 2010; 11 - PL1_3
DOI: 10.1055/s-0030-1265300

Verschiebt die Spezialisierung der Palliativmedizin die Grenzen?

F Nauck 1
  • 1Abt. Palliativmedizin, Universitätsmedizin Göttingen

Bei der rasanten Entwicklung der Palliativmedizin und Palliativversorgung stellt sich die Frage nach Grenzen. Dies betrifft nicht nur die Grenzen der Behandlung, sondern auch zwischen ambulanter und stationärer Versorgung und zu anderen Fachbereichen.

Lag in den ersten Jahren der Palliativmedizin das Hauptaugenmerk neben der Etablierung der Inhalte von Palliativmedizin eher auf dem Aufbau stationärer hospizlicher und palliativmedizinischer Einrichtungen, so sind die letzten Jahre geprägt von der Etablierung der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV). Dieses Thema hat nicht nur bei den Betreuenden, sondern auch bei Politik, Kostenträgern und in den Fachgesellschaften eine hohe Priorität. Bei dem Versuch einer Antwort auf die Fragestellung, ob die Spezialisierung der Palliativmedizin die Grenzen verschiebt, muss sowohl die Sicht der Patientinnen und Patienten mit ihren Angehörigen als auch die Sicht der Betreuenden Beachtung finden.

Viele Patienten wünschen, wenn man die Umfragen ansieht, ein Sterben zu Hause. Um dies unter guter Symptomkontrolle zu ermöglichen, kann die Spezialisierung, und das zeigen zahlreiche Untersuchungen und eigenen klinischen Erfahrungen, einen wesentlichen Beitrag leisten. Die Grenzverschiebung von dem, was ist, zu dem was die meisten Schwerkranken und Sterbenden möchten, kann durch ein hoch qualifiziertes, multiprofessionelles Palliative Care Team, zusammen mit den Primärversorgern wie Hausärzten und ambulanten Pflegediensten gelingen. Gemeinsam können diese Akteure in einem Betreuungsnetzwerk den Patienten und ihren Zugehörigen nicht nur aufgrund der Fachlichkeit Sicherheit geben, sondern auch aufgrund einer 24-stündigen Erreichbarkeit eine Behandlung ambulant anbieten, die zuvor oft nur im stationären Bereich sichergestellt werden konnte. Diese Grenzverschiebung durch weitere Spezialisierung der Palliativmedizin fordert jedoch auch die Angehörigen massiv heraus, mit der oft komplexen, von unterschiedlichen Symptomen geprägten Situation, aber auch der Sterbephase umgehen zu lernen. So verwundert es nicht, dass die „psychosoziale Dekompensation im ambulanten Bereich“ zunehmend einen Aufnahmegrund für Palliativpatienten in die stationäre Behandlung darstellt. Hier kann durch die enge Vernetzung, Absprachen zwischen den Behandelnden und Angeboten für die Zugehörigen – auch unter Hinzuziehung Ehrenamtlicher eines ambulanten Hospizdienstes – eine Situation geschaffen werden, die diesen Aspekten gerecht wird, indem sie sie gezielt in die Behandlungs- und Betreuungsplanung aufnimmt.

Grenzverschiebung in den ambulanten Bereich bedeutet jedoch nicht nur den Blick auf die Patienten und ihre Angehörigen zu haben, sondern auch auf die neuen und vielfältigen Aufgaben und Herausforderungen für die Palliative Care Teams. Neben Transparenz, gelingender Kommunikation und Dokumentation sind Koordination der Angebote der allgemeinen und spezialisierten Palliativversorgung, Netzwerkarbeit und respektvoller Umgang miteinander zum Wohl der betreuten Patienten eine Herausforderung, die auch bei dem Einzelnen Grenzen verschieben oder erkennen lassen.

Nicht zuletzt wird die Spezialisierung der Palliativmedizin dazu beitragen, einerseits die Grenzen zu anderen Fachbereichen deutlich zu machen, Grenzen zu öffnen, auch hin zu einer zunehmenden palliativmedizinischen Betreuung von nicht an Krebs erkrankten Patienten. Eine der wesentlichen Herausforderungen für die Zukunft ist es, Konzepte zu entwickeln, in denen alle Fachbereiche, in denen schwerkranke und sterbende Menschen behandelt werden, palliativmedizinische Konzepte in ihre Behandlungsstrategien integrieren, um allen Menschen, die einer Palliativversorgung bedürfen, diese nicht erst an der Grenze zum Tod zukommen zu lassen sondern bei Bedarf bereits im frühen Stadium einer unheilbaren Erkrankung. Hier geht es auch um eine Grenzverschiebung der Haltung und damit um eine Verschiebung der Grenzen im Denken und Handeln.