PPH 2010; 16(4): 176
DOI: 10.1055/s-0030-1262493
PPH Szene
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Bruno’s Welt

Bruno Hemkendreis
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Publication Date:
31 July 2010 (online)

Freudsche Fehlleistung

Manchmal werden Vorstellungen ihrem Namen in der Form gerecht, dass sie davor stehen, uns die Sicht versperren auf das, was wir beobachten.

In dieser Geschichte soll es überhaupt nicht darum gehen, eine Berufsgruppe zu diffamieren. Es hat sich halt so zugetragen und genauso hätte ein Pfleger oder ein Psychologe der Akteur gewesen sein können.

Wenn jemand die Vorstellung verinnerlicht hat, dass psychische Probleme praktisch immer ihren Ursprung in sexuellen Problemen haben, dann fällt der Blick über den Tellerrand sehr schwer.

Dr. Hans B. ist Mathematiker und arbeitet seit einigen Jahren als Mathematiklehrer an einem Gymnasium. Eher zufällig fällt ihm Kurt Friedrich Gödels Aufsatz „Über formal unentscheidbare Sätze der Principia mathematica und verwandter Systeme” in die Hände, was sein bisheriges Weltbild tief erschüttert. Gödel hatte – sehr verkürzt – gesagt, dass sich die Mathematik nicht mit Mitteln der Mathematik beweisen lässt, bildlich gesprochen: Das Auge kann sich nicht selbst sehen.

Wenige Tage später nahm er an einem Lehrerausflug der Schule teil. Tief beeindruckt und aufgewühlt versuchte er seinen Kollegen zu erklären, was die gewonnene Erkenntnis für das so realistische und grundlegende Erklärungsmodell Mathematik bedeute. Den Kollegen jedoch machte weniger der Gödelsche Unvollständigkeitssatz Angst, als vielmehr der Geisteszustand des Herrn B.

Sie brachten ihn kurzerhand in eine psychiatrische Klinik. Herr B. versuchte im Aufnahmegespräch mit dem Arzt wiederum darzustellen, warum die Beschäftigung mit Gödel sein Bild einer festen Realität so sehr erschüttert habe.

Auszug aus dem Aufnahmebericht des Stationsarztes, einem überzeugten Anhänger der klassischen Psychoanalyse:

Psychischer Aufnahmebefund

Hinreichend bewusstseinsklarer, zeitlich, örtlich, zur Person und situativ orientierter Patient. Äußerlich sauber gekleidet, mit gepflegter Frisur. Im Kontakt offen und kooperativ. Gestik und Mimik teilweise inadäquat. Sprache differenziert. Sprechweise maniform. Stimme übermoduliert. Im Verhalten zugewandt. Stimmung, Antrieb und Affekt nicht immer situationsangemessen.

Akuter Verdacht auf produktiv psychotische Symptome in Form inhaltlicher Denk- oder Wahrnehmungsstörungen. Formaler Gedankengang sprunghaft.

Realitätswahrnehmung und Selbstwahrnehmung inadäquat, Selbstkritik kaum vorhanden, Frustrationstoleranz stark reduziert.

Gedankengänge des Patienten sind extrem penisfixiert. Spricht zwangartig immer wieder von seinem „Dödel” (Genital). Die Beschäftigung mit ihm habe ihm den Boden unter den Füßen weggezogen.

Vermutlich psychotisch übersteigerte Erektionsprobleme: „Vorher sei die Realität fest (!) gewesen, heute jedoch sei nichts mehr so wie früher.”

Der Patient ist nicht krankheits- und behandlungseinsichtig. Keine Hinweise, dass er unter Drogeneinfluss steht. Kein Hinweis auf Suizidalität.

Bruno Hemkendreis





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