Klin Padiatr 2010; 222 - GNPI_PO_53
DOI: 10.1055/s-0030-1261518

Bild-Collagen von Eltern früh geborener Kinder auf der neonatologischen Intensivstation

J Steinhardt 1, T Heimerdinger 1, D Schäfer 2, A Kribs 3, M Simon 1, B Roth 3
  • 1Kulturanthropologie/Volkskunde der Universität Mainz, Deutsches Institut, Mainz
  • 2Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Uniklinikum Köln, Köln
  • 3Univ.-Kinderklinik, Köln

Hintergrund: Der Übergang in die Elternschaft gestaltet sich für die Eltern zu früh geborener Kinder schwierig. Traditionelle Organisationsmuster, Verhaltensweisen und der fiktive Erwartungshorizont, der von einem „freudigen Ereignis“ spricht, werden fragwürdig. Früh gewordene Eltern befinden sich bei ihrem Übergang länger und intensiver in einem Schwellenzustand (Liminalität [1]), denn lange Zeit ist ungewiss, ob und mit welchen Auswirkungen ihr Kind überleben wird. Es müssen neue Konzepte der Verarbeitung, Sinndeutung und Kommunikation gefunden werden. Auf der NICU sehen sich die Eltern in dieser Situation mit Collagen vergangener Elterngenerationen konfrontiert, die in einer großen Anzahl in den Räumen und Fluren der neonatologischen Intensiv- und Frühgeborenenstationen ausgestellt sind. Fragestellung: Inwiefern stellen die Collagen eine Verarbeitungsform von Krise und Übergang auf dem Weg in die Elternschaft dar? Welchen Stellenwert nehmen die Collagen für die neonatologische Intensiv- und Frühgeborenenstation ein? Material und Methode: Quantitativ-deskriptive und qualitative Auswertung von 204 Bild-Collagen aus den Jahren 1987 bis 2008 der Neonatologie am Universitätsklinikum Köln. Kontextualisierung durch drei Experteninterviews. Ergebnisse und Diskussion: Bedeutung und Funktion der Collagen für die Akteure der Station. a) Eltern als Rezipienten Durch die Collagen erfahren die Eltern Unterstützung von Menschen, die selbst von einer Frühgeburt betroffen waren. Sie sind Zeichen für die gelungene Rückkehr in die Normalität. b) Eltern als Produzenten Die Collagen fungieren als Erinnerungsträger und Zeichen der Verbundenheit. Durch die retrospektive Beschäftigung mit dem Themenkomplex kommt es zu einer Aufarbeitung und dem Abschluss mit den Geschehnissen. c) Neonatologische Intensiv- und Frühgeborenenstation Indem die Collagen als Stellvertreter ihrer Hersteller erklären, trösten etc., haben sie erheblichen Einfluss auf das Erleben anderer Eltern. Durch die öffentliche Präsentation der Collagen tragen diese zur Akzeptanz der Klinik und deren medizinischer Maßnahmen bei nachfolgenden Elterngenerationen bei. d) Besucher Die Collagen vermitteln in vielfältiger Weise eine Vorstellung dessen, was Frühgeburtlichkeit in medizinischer, emotionaler und psychosozialer Hinsicht für die Eltern bedeutet. Schlussfolgerungen: Es handelt sich um eine vergleichsweise neu entstandene Tradition, die den Übergang in die Elternschaft formalisiert und eine Orientierungs- und Bewältigungshilfe für früh gewordene Eltern darstellt. Zwischen vergangenen und gegenwärtigen Elterngenerationen entsteht durch die Collagen eine „ungleichzeitige Communitas“ [2], d.h. eine Verbundenheit zwischen Eltern, die sich gegenwärtig in der schwierigen und unsicheren Situation befinden. Die Collagen unterstützen ähnlich wie NIDCAP oder die Känguru-Pflege den Aufbau einer intakten Eltern-Kind-Bindung, in dem sie die Kompetenz und das Vertrauen der Eltern stärken. [1] Turner, Victor (2005). Das Ritual, Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt: Campus. [2] Weiterentwicklung des von Victor Turner gebrauchten „Communitas“-Konzeptes, mit dem er die sich zeitgleich in der liminalen Phase eines Übergangs befindlichen Personen umschreibt.