Klin Padiatr 2010; 222 - GNPI_FV_67
DOI: 10.1055/s-0030-1261402

Ingestion von Bleikügelchen bei Geschwistern – ein Notfall?

R Adler 1, G Leineweber 1, B Plenert 2, N Lorenz 1, M Kabus 1
  • 1Kinderklinik, Städtisches Krankenhaus, Dresden
  • 2Giftinformationszentrum der Länder Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, Erfurt

Einleitung: Akute Bleiintoxikationen (BI) in der Pädiatrie sind seltene Ereignisse mit meist harmlosem Verlauf. Jeder einzelne Fall erfordert jedoch eine spezialisierte, notfallmäßige, toxikologische Beurteilung, da akut-letale Verläufe beschrieben sind. Die Aufnahme durch Ingestion ist bei Kindern die häufigste. Unspezifische Symptome wie Kopfschmerzen, Müdigkeit, Muskelschwäche, Gangunsicherheit oder Gewichtsverlust bestimmen das klinische Bild sowohl akuter als auch chronischer Vergiftungen. In hohen Konzentrationen ist mit schwersten neurologischen Ausfällen bis hin zum Tod zu rechnen. Der therapeutische Einsatz von Chelatbildnern (DMPS, DMSA) ist bisher nicht hinreichend untersucht, gilt aber in der Pädiatrie bei Serum-Bleikonzentrationen (SBK) über 400µg/l als indiziert. Studien beziehen sich dabei fast ausschließlich auf akute Intoxikationen. Die Effektivität und Sicherheit einer Chelattherapie – insbesondere einer Langzeittherapie – bei chronischen Intoxikationen sind nicht hinreichend untersucht. Bei Kindern sollten SBK unter 60µg/l angestrebt werden, da dauerhaft erhöhte SBK-Werte bis 100µg/l neuro- und nephrologische Störungen bedingen können. Speziell eine irreversible Intelligenzminderung und psychomotorische Defizite werden damit in Verbindung gebracht. SBK über 100µg/l beeinflussen die Blutbildung u.a. durch Enzymhemmung auf unterschiedlicher Ebene; SBK über 700µg/l sind immer als Notfall zu werten. Fallbericht: Wir behandelten zwei Geschwister mit akuter BI nach Ingestion unbekannter Mengen Bleikügelchen (Ø1mm). Die maximale SBK beim Mädchen (w) (6 Jahre) betrug 230µg/l, beim Jungen (m) (8 Jahre) 275µg/l; beide zeigten sich klinisch unauffällig. Die oralen Gaben von DMPS brachen wir nach 22tägiger Behandlung bei fraglich allergischer Hauterscheinung beider Kinder ab. Die SBK bei Abbruch der Therapie betrugen: w 61µg/l, m 102µg/l. Wir empfahlen die erneute SBK-Bestimmung sowie eventuelle DMPS-Zyklen bei Fieber und unklaren Bauchschmerzen. Diskussion: Aufgrund der Seltenheit einer BI in der Pädiatrie und der möglichen schwersten Folgen ist der Entschluss zur Chelattherapie individuell zu treffen. Die frühstmögliche Bleielimination aus dem Gastrointestinaltrakt bei Ingestion ist auf Grund der erhöhten enteralen Absorptionsrate von 50% bei Kindern (Erwachsene 10%) stets indiziert. Neben der akuten Toxizität sind Langzeitfolgen durch Speicherung im Knochen mit nachfolgender Mobilisation bei akuten Erkrankungen möglich; eine BI darf daher nie bagatellisiert werden. Die bisher wenig diskutierte Chelat-induzierte Umverteilung von Schwermetallen und eine eventuell damit verbundene Zunahme der Vergiftungssymptomatik mit Anreicherung in sensiblen Organen (Gehirn) sollte dennoch ebenso kritisch betrachtet werden. Die Entscheidung zur Therapie muss dabei klinische Symptome, die Art der Aufnahme als auch die Art der Belastung (chronisch vs. akut) mit einbeziehen und muss immer mit umweltmedizinischen Interventionen einhergehen.