Klin Padiatr 2010; 222 - GNPI_FV_48
DOI: 10.1055/s-0030-1261364

Wie Probiotika die Pathophysiologie der Nekrotisierenden Enterokolitis beeinflussen – eine Literaturübersicht zu neuen Hypothesen

U Fassnacht 1, R Hentschel 1
  • 1Universitäts – Kinderklinik, Freiburg

Aufgrund der bestehenden Evidenzlage zur Wirksamkeit von Probiotika bei der Prävention der Nekrotisierenden Enterokolitis (NEC) des Frühgeborenen werden diese bereits in vielen neonatologischen Abteilungen routinemäßig eingesetzt (AlFaleh 2009). Auf welche Weise Probiotika Einluss auf die Pathophysiologie der NEC nehmen ist dabei noch unklar. Es zeichnet sich jedoch ab, dass die gängige Hypothese der Verdrängung potentiell pathogener Darmkeime zugunsten nützlicher intestinaler Flora wahrscheinlich eine untergeordnete Rolle spielt. Dagegen mehren sich Hinweise, dass Probiotika günstige immunregulatorische Wirkungen im unreifen Darm entfalten, die die überbordende Inflammation bei der NEC eingrenzen. Methode: Analyse der experimentellen und klinischen Studien der letzten Jahre aus der Grundlagenforschung zur Wirksamkeit probiotischer Keime im Hinblick auf die Beeinflussung relevanter physiologischer, immunologischer und molekularbiologischer Abläufe. Ergebnis: Für folgende Wirkmechanismen liegen gesicherte Daten vor: (1) Stärkung der mukosalen Barrierefunktion. Beispiel: Nach stattgehabter Interaktion von Lactobazillen (LGG) mit Enterozyten wird die Translokation von E. coli inhibiert. Ein Effekt der Bindung von LGG an Oberflächenrezeptoren der Enterozyten ist die Hochregulierung der MUC-2-Genexpression und der nachfolgend verstärkten Produktion von Mucinen. Diese haben eine protektive Wirkung gegen bakterielle Translokation in fetalen und adulten Zellkulturen (Mattar 2002).

(2) Stimulation – statt Suppression – des angeborenen Immunsystems. Beispiele: Die Anwesenheit von Lactobazillen führt zu einer verstärkten spezifischen und unspezifischen IgA-Antwort gegen S. typhi (Link-Amster 1994). Die Hypothese einer präventiven „physiologischen Inflammation“ wird gestützt durch die Beobachtung, dass die durch Probiotika induzierte lokale Produktion von TNFα sowie Aktivierung von NF-κB die intestinale Inflammationsreaktion in einem Ileitis-Mausmodell bremst und zur mukosalen Integrität beiträgt (Pagnini 2010). (3) Zeitliche Dynamik der LPS-Suszeptibilität als Erklärung für die Prädisposition von Frühgeborenen für die NEC. Beispiel: Unter Berücksichtigung der besonderen Situation der Organunreife beschreibt ein anderes Modell eine postnatale, endogene Aktivierung von TLR4-Rezeptoren, deren normale intrinsische Regulierung in den undifferenzierten Enterozyten Frühgeborener womöglich nicht ausreichend ist und zur Inflammation führt. (Hornef 2006). Durch Probiotika könnte eine entsprechende Toleranz-Induktion initiiert werden.

Schlussfolgerung: Es gibt bereits heute hinreichend experimentelle Belege für alternative Hypothesen zur Wirksamkeit der Probiotika. Diese liegen eher in der Interaktion mit Wirtszellen und in der immunmodulatorischen Wirkung als in der Verdrängung pathogener Bakterien. Weitere Forschung könnte sich darauf konzentrieren, alternative lokale Behandlungsoptionen zu untersuchen, bei denen der vermehrungsfähige Keim keine Rolle mehr spielt.