Klin Padiatr 2011; 223: S18-S26
DOI: 10.1055/s-0030-1255880
Varia

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Klinische Relevanz der reduzierten Nephronenzahl[1]

Kerstin  Amann, Kerstin  Benz
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Publication Date:
06 April 2011 (online)

Niedrige Nephronenzahl infolge von Störungen der Nephrogenese

Eine bereits bei Geburt gegenüber der Norm von ca. 1 Mio. Nephrone pro Niere verminderte Nephronenzahl (sog. „Nephron Underdosing”) wird heute als ein Risikofaktor für kardiovaskuläre und renale Erkrankungen im Erwachsenenalter betrachtet. Diese Ansicht beruht zum einen auf früheren Beobachtungsstudien, die einen Zusammenhang zwischen verschiedenen kritischen Parametern zum Zeitpunkt der Geburt (wie z. B. dem Geburtsgewicht) und der Entstehung von Krankheiten im Erwachsenenalter beschrieben hatten [1] [2] [3], und zum anderen auf tierexperimentellen Studien zu intrauteriner Wachstumsretardierung (IUGR). Bekannt sind seitens der klinischen Studien vor allem die Untersuchungen von Barker und Mitarbeitern [2], die einen Zusammenhang zwischen niedrigem Geburtsgewicht und der Entstehung kardiovaskulärer Erkrankungen im Erwachsenenalter aufzeigten. Den Autoren stand für ihre Untersuchungen ein umfangreicher und in seiner Genauigkeit einmaliger Datensatz über Geburtsgewichte über einen sehr langen Zeitraum zur Verfügung. Dieser hilfreiche Umstand war auf die Besorgnis der britischen Armee vor dem 1. Weltkrieg zurückzuführen, dass die Größe und das Gewicht der Rekruten zunehmend abnehmen würden, weshalb dann ein Gesetz erlassen wurde, welches die Registrierung des Geburtsgewichts vorsah.

Intrauterine Wachstumsretardierung

Im Zentrum der pathophysiologischen Überlegungen zu Konsequenzen einer gestörten intrauterinen Entwicklung steht eine durch mütterliche oder fötale Gene bzw. durch mütterliche Faktoren, insbesondere auch Umweltfaktoren, während der Schwangerschaft geprägte intrauterine Wachstumsretardierung, die u. a. zu einer gestörten Nierenentwicklung mit geringerer Nephronenzahl und kompensatorischen, in der Summe maladaptiven renalen Veränderungen führt, welche dann im späten Jugend- und Erwachsenenalter in kardiovaskuläre und renale Erkrankungen münden.

Wesentliche Mechanismen dieser sog. intrauterinen oder pränatalen Programmierung wurden ebenfalls bereits von Barker und Mitarbeitern [4] beschrieben. Vor mehr als 45 Jahren gaben Tierexperimente den ersten Hinweis darauf, dass eine Veränderung des intrauterinen Milieus und damit auch der intrauterinen Entwicklung durch diätetische Manipulation der Mutter vor und während der Schwangerschaft bei den Nachkommen zu lebenslangen kardiovaskulären und metabolischen Veränderungen führen kann [5] [6]. Dieses bis dahin nicht beschriebene Phänomen wurde später als „Developmental Plasticity” beschrieben und umfasst das Phänomen, dass ein und derselbe Genotyp als Antwort auf unterschiedliche Umweltbedingungen während der Entwicklung in viele unterschiedliche physiologische oder morphologische Phänotypen münden kann [6]. In der Folge wurde gezeigt, dass vor allem Störungen der Nephrogenese während der Gestation in eine im Vergleich zur Norm niedrigeren Nephronenzahl münden und diese als Risikofaktor für kardiovaskuläre und renale Erkrankungen des Erwachsenen angesehen werden können [7] [8] [9].

Während der Nephrogenese, die vor allem während des 3. Schwangerschaftstrimenons abläuft, interagieren sowohl intrinsische als auch extrinsische Faktoren in der Bildung des finalen Nephrons. Die hierdurch üblicherweise entstehende Nephronenzahl von ca. 1 Mio. pro Niere wird als das sog. „Nephron Endowment” bezeichnet [10] [11]. Beim Menschen (und beim Schaf) ist diese Nephronenzahl zum Zeitpunkt der Geburt festgelegt und kann nachgeburtlich nur noch vermindert werden, was z. B. physiologisch im Rahmen des Alters oder pathologisch im Rahmen eines Nierenschadens erfolgen kann. Im Gegensatz dazu ist die Nephrogenese bei Nagern (Maus und Ratte) bei Geburt noch nicht beendet, sondern erfolgt auch noch postnatal bis etwa zu Tag 9. Dieser Umstand ist wichtig für die Interpretation zahlreicher experimenteller Befunde bei Mäusen und Ratten, die üblicherweise als Modellsystem für pränatale Programmierung verwendet werden.

Faktoren, die bekannterweise mit der intrauterinen Entwicklung und speziell mit der Nephrogenese interferieren, umfassen v. a. die Verminderungen der Versorgung des Nachwuchses, z. B. durch plazentare oder plazentouterine Minderperfusion, mütterliche Malnutrition wie bei niedriger Proteinaufnahme, Hypovitaminosen (vor allem Vitamin A), Glucosteroidgabe, Hyperglykämie oder Hyperinsulinämie der Mutter, nephrotoxische Medikamente, wie z. B. Gentamicin, aber auch eine hohe mütterliche Salzaufnahme oder Nikotinabusus der Mutter [14]. Diese Umweltfaktoren, die entweder die Implantation direkt oder aber das intrauterine Wachstum beeinflussen, sind mit Veränderungen im Ernährungs- bzw. Hormonstatus des Milieus in Eileiter oder Gebärmutter assoziiert, die genau zu dem Zeitpunkt auftreten, wenn Veränderungen des embryonalen Genoms durch DNA-Methylierung und Acetylierung von Histonen auftreten. Diese können dann zu Änderungen der Genexpression führen. Eine IUGR induziert bekanntermaßen Veränderungen des normalen Musters oder des zeitlichen Ablaufs der Aktivierung von Schlüsselgenen, die RNA, DNA, Proteinbiosynthese, Metabolismus und Katobolismus, Signaltransduktion, Transport, aber auch Zell-Zell-Interaktion und -Kommunikation beeinflusst. Zusätzlich führt IUGR durch mütterliche Malnutrition oder Plazentainsuffizienz zu epigenetischen Veränderungen, z. B. durch Veränderungen der CpG-Methylierung und Telomerverkürzung. Diese epigenetischen Prozesse weisen graduelle Effekte auf und können so die ebenfalls graduelle Assoziation zwischen Geburtsgewicht und chronischen Erkrankungen im Erwachsenenalter gut erklären. Epigenetische Veränderungen des Embryos können weiterhin auch Veränderungen in der Allokation pluripotenter Stammzellen zu den verschiedenen Zelllinien induzieren, was z. B. für die mütterliche Diätrestriktion bei Ratten nachgewiesen wurde, bei der Änderungen der Zellverteilung zwischen innerer und äußerer Masse im Embryo die Entstehung einer postnatalen Hypertonie quasi programmieren.

Die oben beschriebenen Faktoren können darüber hinaus auch Mutationen oder pränatale Modifikationen verschiedener Gene induzieren, die bekanntermaßen in die verschiedenen Schritte der Nephrogenese involviert sind und hier die Sequenz und den zeitlichen Ablauf der Nephrogenese steuern [10]. So zeigen beispielsweise Mäuse mit einer Deletion von Genen, die wichtige Schritte der Nephrogenese kontrollieren, wie z. B. Paired Homeobox-2 (Pax-2) oder Glial-Cell-Line-derived neurotrophic Factor (GDNF) eine reduzierte Nephronenzahl. Entsprechend zeigen auch Patienten mit spezifischen Mutationen in Genen, die in die Nephrogenese involviert sind, wie z. B. WT-1, Pax-2, LMX-1, EYA-1, SIX1, SALL1 oder TCF2, eine niedrigere Nephronenzahl [17]. Auch p53-Wildtyp-transgene Mäuse besitzen eine um 50 % reduzierte Nephronenzahl und kleine Nieren. Diese Mäuse entwickeln darüber hinaus auch ein progredientes Nierenversagen. Neben Mutationen in Genen, die direkt in die Regulation der Nephrogenese involviert sind, zeigen auch verschiedene andere Mausmodelle, wie z. B. die α8-integrin-Knockout-Maus, die Bcl-2-Knockout-Maus sowie Mäuse mit Mutationen im BMP7 und Os-Gen (Os: Oligosyndaktylie) eine niedrigere Nephronenzahl.

Betrachtet man nun die extreme Komplexität der Vorgänge während der Nephrogenese, so ist es unwahrscheinlich, dass eine erniedrigte Nephronenzahl jeweils nur als Folge von Störungen während der kritischen Periode der Nephrogenese entsteht. Es ist eher wahrscheinlich, dass ungünstige intrauterine Umgebungsbedingungen zu zusätzlichen strukturellen und/oder funktionellen Veränderungen führen, die dann potenzielle schädigende Einflüsse auf die Langzeitfunktion der Niere ausüben. Beispielhaft hierfür kann sein [14]:

eine unterdrückte Aktivität des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems (RAAS) ein Glukokortikoidexzess als Ergebnis erhöhter Konzentrationen des Glukokortikoidrezeptors auf Gen- und Proteinebene, der von einer Verminderung der Genexpression der 11βHSD2 begleitet wird Veränderungen des tubulären Natrium-, Kalium- und Chloridhandlings als Ergebnis einer erhöhten Genexpression der α- und β-Untereinheiten der Natriumtransporter (Natrium-Kalium-ATPase) eine aberrante oder inadäquate Aktivierung anderer vasoaktiver Systeme, z. B. des Endothelins

1 Der vorliegende Artikel ist dem Gedenken an Prof. Lothar Bernd Zimmerhackl gewidmet.

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1 Der vorliegende Artikel ist dem Gedenken an Prof. Lothar Bernd Zimmerhackl gewidmet.

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