Gesundheitswesen 2010; 72 - A17
DOI: 10.1055/s-0030-1251673

Eigenverantwortung in der Prävention

B Schmidt 1
  • 1EFH Bochum

Die aktuelle Gesundheitspolitik in Deutschland setzt seit einigen Jahren verstärkt auf gesundheitliche Eigenverantwortung. Im Fahrwasser des gesamtpolitischen Trends, der sich in Konzepten wie dem „Aktivierenden Staat“ oder dem „Fördern & Fordern“ manifestiert und darauf abzielt, gesellschaftliche Zuständigkeiten zwischen Staat, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft neu zu verteilen, sollen auch gesundheitliche Verantwortlichkeiten neu justiert werden: Insbesondere der und die Einzelne werden verstärkt in die gesundheitliche Pflicht genommen, sie sollen sich künftig eigenverantwortlich darum bemühen, persönliche Risiken auf ein Minimum zu beschränken bzw. Selbstversorgungs-Kompetenzen auf ein Maximum auszudehnen.

Die BürgerInnen werden dazu aufgerufen, sich hinreichend zu bewegen, maßvoll zu essen, keine Drogen zu nehmen und Stress zu bewältigen. Mehr Gesundheit wird davon erwartet, obwohl hinreichend belegt ist, dass Gesundheit weniger das Ergebnis von persönlicher Leistung als von sozialer Lage ist. Unbestritten steht der persönliche Lebensstil in Zusammenhang mit dem individuellen Gesundheitszustand. Doch daraus zu schlussfolgern, dass das Individuum faktisch und auch moralisch verantwortlich ist für seine Gesundheit, ist zu schlicht, denn der persönliche Lebensstil ist Symptom der sozialen Lebenslage und liegt folglich nicht allein im individuellen Kontrollbereich.

Von den sozialepidemiologischen Erkenntnissen unbeirrt setzt die aktuelle Gesundheitsförderungspolitik auf das individuelle Fördern und Fordern von mehr Eigenverantwortung für Gesundheit. Mehr Eigenverantwortung sollte allerdings nicht verwechselt werden mit mehr Selbstbestimmung. Eigenverantwortliche Menschen sollen nicht frei wählen zwischen körperlicher Gesundheit (Safer-Sex) und spontaner Lust (kondomloser Sex). Eigenverantwortliche PatientInnen sollen: keine unnötigen Leistungen in Anspruch nehmen, notwendige Leistungen möglichst selbst finanzieren, sich bezahlen lassen für gehorsames Präventionsverhalten und schließlich bezahlen für zusätzliche privatvergnügliche Gesundheitsleistungen.

Als eigenverantwortliche Subjekte sind Kranke nicht mehr Opfer von Pech oder gesundheitsriskanten Lebensbedingungen, sondern tatverdächtig aufgrund ihrer mangelhaften Anstrengungen zur gesundheitsorientierten Selbstoptimierung. Da Krankheit überzufällig häufig in niedrigen Sozialschichten verbreitet ist, sind diese Bevölkerungsgruppen doppelt benachteiligt – sie sind belasteter und werden unter Eigenverantwortungsbedingungen für diese Belastungen zur Verantwortung gezogen. Die Pflicht zur Gesundheit wird Menschen abgerungen, die diese Pflicht nicht erfüllen können. Wenn überhaupt, dann lässt sich mit der aktuellen Neo-Gesundheitsförderung die Gesundheit der ohnehin begünstigten Bevölkerungsgruppen weiter verbessern; für die weniger privilegierten Menschen ist das Fördern & Fordern von Gesundheit wenig mehr als pure Überforderung.