Psychother Psychosom Med Psychol 2010; 60(12): 498-499
DOI: 10.1055/s-0030-1248629
Mitteilungen aus dem DKPM

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Zum Gedenken an Marianne Fuchs

In Memory of Marianne FuchsThomas H.  Loew1 , Monika  Leye1
  • 1Abteilung für Psychosomatik, Universitätsklinikum Regensburg
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Publication Date:
08 December 2010 (online)

Marianne Fuchs

Sie hätte wahrscheinlich Ge-denken gedacht, daraus ein verspieltes Geh-denken. Die am 4. November 1908 in Bopfingen in Schwaben als Tochter einer Lehrerin und eines Postbeamten in eine große Mehrgenerationenfamilie hineingeborene Pastorenenkelin begründete die Funktionelle Entspannung (FE), die den tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapieverfahren zugeordnet wird.

Sie verstarb am 11. März 2010 in Düsseldorf im 102. Lebensjahr. Ihre persönliche Geschichte ist mit einigen Leben der Protagonisten der deutschen psychosomatischen Medizin und damit natürlich mit dem Deutschen Kollegium für Psychosomatischen Medizin, dessen Ehrenmitglied sie war, eng verknüpft. Tausende von Ärzten und Psychologen, Physio- und Ergotherapeuten, Logopäden, Krankenschwestern und -Pfleger und viele Lehrer, Sozial- und Diplompädagogen konnten in den letzten 60 Jahren ihre Methode, davon seit über 50 Jahren bevorzugt auf den diversen Psychotherapiewochen kennenlernen. Sie, die den „Einschlupf ins leibliche Unbewusste”, gefunden haben, wie es R. Siebeck, einer der Kollegen von Professor V. von Weizsäcker Ende der 40er-Jahre in Heidelberg einmal formulierte, fand ursprünglich ihr „Schlupfloch” beim „Bund für angewandte und freie Bewegung”, eine Einrichtung, die später in den 20er-Jahren als Günther-Schule in München bekannt werden sollte, an der Carl Orff Rhythmik unterrichtete und an der auch eine andere Hauptakteurin auf diesem Feld, Elsa Gindler später ihre Ausbildung machte.

Marianne Fuchs selbst bezeichnete die Reform-Pädagogik und -Bewegung als eine ihrer wichtigen Quellen; eine weitere Prägung erfuhr die neugierige, weltoffene und blitzgescheite Heilgymnastiklehrerin, wie sie ihren damaligen Beruf nannte, dann an ihrer ersten beruflichen Wirkungsstätte an der Nervenklinik in Marburg / Lahn, wo sie zunächst unbekümmert als 19-jährige vorsprach und tatsächlich dann als freie Mitarbeiterin bis Mitte der 30er-Jahre tätig war und zunächst für ihr Einkommen als Freiberuflerin und später praktisch voll für den Familienunterhalt sorgte. Ihre breite Allgemeinbildung und ihre offene Art verhalfen ihr zu manch interessanter Begegnung, im Kontext der von Professor Kretschmer gepflegten phänomenologischen Psychiatrie, und – z. T. gebahnt durch die akademischen Kontakte Peters, ihres Ehemanns und späteren Doktorvaters von Altkanzler Kohl, etwa zu M. Heidegger, der einige Häuser weiter wohnte und ihr musikalisches Interesse teilte.

An der Nervenklinik bot sie Gruppen für in ihrer Entwicklung beeinträchtigte Kinder, die ihr von den Nervenärzten zugewiesen wurden, und deren Mütter an. Wegen des beruflichen Wechsels ihres Mannes nach Heidelberg zum Zwecke der Habilitation, später kriegsbedingt, konzentrierte sie sich zunächst auf ihre Familie; ihren ersten Kontakt zu von Weizsäcker hatte sie als Patientin wegen einer nicht heilen wollenden Ohr- und Halsinfektion, die sie rückwirkend aufgrund der enormen situationsbedingten Belastung psychosomatisch deutete und auch Weizsäckers Äußerungen dazu nun so einordnete.

Sie war schon damals das, was man in den 80er-Jahren eine emanzipierte Frau genannt hätte, ohne Berührungsängste, die die Menschen interessierte und die keine Titelscheu zeigte, aber immer mit dem gebotenen Respekt. Die spezifische Methodik entwickelte sie, eine Erkrankung ihres jüngsten Sohnes begleitend, der damals eine spastische Bronchitis, wie damals Asthma bronchiale genannt wurde, hatte, die sie mit dem Team von V. von Weizsäcker reflektierte und bei dem sie dann – nach seiner Rückkehr von Breslau nach Heidelberg – als Physiotherapeutin arbeitete, in seinen letzten Lebensjahren, in denen ihn eine schweres Parkinsonsyndrom quälte, auch als „seine” Physiotherapeutin mit der von ihr „erfundenen” Methode.

In den folgenden Jahren entwickelte sie als „Einzelkämpferin”, dann mit den ersten Schülerinnen aus ihrem unmittelbaren Umfeld, die eigentliche Basis einer atemrhythmisierenden Entspannungstechnik, die das „leibliches „es” …, das kleingeschriebene in Ergänzung zum Freud'schen großgeschriebenen „Es” des Instanzenmodells zum Ausgangspunkt hatte. In den 50er-Jahren hatte sie durchaus auch eine Nähe zu den anderen „Atemschulen”, den Atemlehrern zum Beispiel, und war auch Mitglied des Berufsverbandes, von denen sie sich dann aber abgrenzte.

Marianne Fuchs Rezept bestand aus wenigen – konkreten – Spielregeln, wie das Achten auf Körpervorgänge bezogen auf den Atemrhythmus, das Versprachlichen von Körperempfindungen, um diese erinnern zu können, um letztlich Veränderungen wahrzunehmen; das Fokussieren auf kleine Bewegungen an den kleinen Gelenken und das Spielen mit der Ein und Ausatmung. Grundidee ist, dass psychosomatische Störung im Kern eine Rhythmusstörung sei, bei der autonome Vorgänge, die sich selbst regulieren würden, wenn man sie nur ließe, Einschränkung erfahren.

An diesem Punkt passt die FE sich ein in das Gestaltkreismodell von v. Weizsäcker und das Funktionskreismodell von Th. v. Uexküll. Eine durch Wahrnehmen und Bewegen angeregte Autonomisierung des Atems führe dann zu physiologischen Veränderungen, die überraschend nachhaltig sind, wie mittlerweile in einem dutzend Studien experimentell und klinisch gut belegt werden konnte. Im Gegensatz zu den hypnoiden Methoden, wie dem Autogenen Training soll bei dem von ihr praktizierten Vorgehen nicht die Selbsthypnose und induzierte Dissoziation die Lösung bringen, etwa beim chronischen Schmerz, sondern der Ausgleich der Organfunktion; es handelt sich also nicht um eine „allgemeine Entspannung”, die dem Wunsch nach körperlicher Regression folgt, sondern es ist im Kern eine „um … zu … Entspannung” also zielgerichtet, aber trotzdem indirekt und deshalb funktionell.

Damit erklärt sich der Name der Methode, der Ende der 60er-Jahre in der Literatur auftaucht. Schon selbst in den 60ern formalisierte sie die Weiterbildung, eine Arbeitsgemeinschaft Funktionelle Entspannung wurde gegründet, Schüler von ihr wurden im ganzen deutsprachigen Raum tätig in den unterschiedlichsten Anwendungsfeldern. Anfang der 80er-Jahre kam es zu den ersten kontrollierten Studien an der FU Berlin. Ende der 80er-Jahre entwickelte sich zunächst ein Austausch, basierend auf einer Idee von Prof. W. Schüffel, die Medizinstudenten zu einem Kurs subjektiver Anatomie einzuladen – parallel zum anatomischen Präparierkurs und zum Konzept des Peer-Learnings in den Anamnesegruppen, das dann auch Prof. Th. v. Uexküll, den Nestor der deutschen psychosomatischen Medizin intensiver in Kontakt mit der Methode brachte, die er dann letztlich als genuinen psychosomatischen Behandlungswegs und Technik des Erkenntnisgewinns. In dieser Zeit konnte mit dem Projekt und dem Buch subjektive Anatomie, das leider nur noch antiquarisch zu haben ist, und dem damaligen Zeitgeists des salutogenetischen Denkens voll entsprach, ein Meilenstein gesetzt werden, der auch im Kreise des DKPM eine hohe Beachtung fand.

Nunmehr schon deutlich über 80-jährig war Marianne Fuchs immer noch für ihre engeren Schüler Anleiterin und Ratgeberin und begleitete aktiv die ersten RCTs in ihrer Erlanger Heimat. 1998 wurde sie für die Methode und ihr Engagement in der Weiterbildung mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Es war ihr vergönnt, bis fast zum Schluss ihres Lebens in einem kreativen Prozess des Austauschs im Wechsel von Autonomie aber auch dem Aufgehobensein in ihrer Familie Generationen von Psychotherapeuten mit ihren Gedanken und ihren Konzepten zu beeinflussen und zu deren Selbstregulation und Psychohygiene beizutragen, und damit indirekt zu einer Verbesserung der Heilverläufe von Patientinnen und Patienten, ganz im Sinne ihres ursprünglichen Wirkens, so wie sie eher die Mütter der Kinder, die in ihre Obhut kamen, anleitete, damit diese etwas in der Hand hatten, um ihre Kinder selbst anzuleiten und zu unterstützen. Ihr berufsgruppenübergreifendes- und unabhängiges methodenzentriertes Vorgehen, das immer die Person und den Dialog in den Vordergrund setzte, mag uns daran erinnern, dass Psychosomatische Medizin das Zusammenwirken von Individuen erfordert, ganz im Geist der Beziehungsmedizin.

Ihr „vor-denken, mit-denken, be-denken” möge uns noch lange in den Ohren klingen; wir werden dein An-denken im Herzen und in unseren Händen – im Sinne der therapeutischen Berührens – bewahren.

Prof. Dr. Thomas H. Loew

Abteilung für Psychosomatik, Universitätsklinikum Regensburg

Franz-Josef-Strauss-Allee 11

93053 Regensburg

Email: thomas.loew@klinik.uni-regensburg.de

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