Psychiatr Prax 2010; 37(7): 319-321
DOI: 10.1055/s-0030-1248587
Debatte: Pro & Kontra

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Reine Frauenstationen in Psychiatrie und Psychotherapie

Special Wards for Women in Psychiatry and PsychotherapyPro: Andrea  Moldzio Kontra: Tilman  Steinert, Ralf-Peter  Gebhardt
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Publication Date:
30 September 2010 (online)

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Pro

Entgegen zahlreicher Widerstände haben wir 2005 in der Asklepios Klinik Nord Ochsenzoll in Hamburg eine „Behandlungseinheit für Frauen” (BeF), die nicht nur ausschließlich Frauen behandelt, sondern auch aus einem ausschließlich weiblichen Therapeutenteam mit Ärztinnen, Psychologinnen, Ergo- und Tanztherapeutinnen besteht, eröffnet. Behandelt werden schwerpunktmäßig Patientinnen mit Traumafolgestörungen (z. B. PTBS, dissoziative Störungen) sowie Frauen mit allgemeinpsychiatrischen Diagnosen, die den Wunsch haben, auf einer Frauenstation behandelt zu werden.

Sehr häufig hörten wir das Argument, dass reine Frauenstationen antiquiert wären, und letztlich nur einen Rückschritt in das „tiefe Mittelalter” der Psychiatriegeschichte sind. In der Tat herrschte in der psychiatrischen Versorgung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts eine Geschlechtertrennung, welche männliche und weibliche Patienten weitgehend voneinander isolierte. Im Zuge der Humanisierung und Normalisierung der Psychiatrie, die sich in erster Linie gegen die restriktiven, deprivierenden und hospitalisierenden Krankenhauszustände wandte, setzte sich erst in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts eine Mischung der Geschlechter auf den psychiatrischen Stationen durch, die durch die Psychiatrieenquete 1975 noch einmal ausdrücklich empfohlen wurde. Man erhoffte sich von der Geschlechtermischung in erster Linie eine weitgehende Normalisierung der therapeutischen Gemeinschaft der Patienten analog der Welt außerhalb der Klinik.

Der meistgeäußerte Kritikpunkt gegenüber unserer Behandlungseinheit für Frauen war, dass eine Trennung von Frauen und Männern eine künstliche Spaltung der Welt suggeriere. Dadurch würden Frauen mangels Kontakt oder Auseinandersetzung mit Männern die Hälfte der Realität ausblenden und sich kokonartig in eine irreale Schonwelt zurückziehen, die spätestens bei der unvermeidlichen Rückkehr in die Realität wie eine Seifenblase zerplatze.

Als weiteres Argument gegen eine Geschlechtertrennung wurde die möglicherweise verdeckte Implikation von Schuldzuweisungen an das männliche Geschlecht angeführt: Gerade bei einer Frauenstation mit dem Schwerpunkt der Traumatherapie läge die Gefahr darin, Frauen einseitig als Opfer und Männer als Täter zu stigmatisieren und damit dem Mann per se offen oder verdeckt die Täterrolle zuzuschreiben. Die Verfestigung eines einseitigen und problematischen Männerbildes wäre dann die Folge.

In Anbetracht des heutigen Wissensstandes greift jedoch die Frage, ob eine Frauenstation per se sinnvoll ist oder nicht, zu kurz. Eine differenziertere Frage wäre, unter welchen Bedingungen eine Behandlungseinheit für Frauen für welche Patientinnen sinnvoll ist.

In der gegenwärtigen Gesundheitsforschung ist eine geschlechtsdifferente Betrachtung von Erkrankungen ein zunehmend aktueller werdendes Thema. Frauenspezifische Fragestellungen werden nicht mehr nur im angloamerikanischen Raum, sondern zunehmend auch in Deutschland rezipiert und finden Eingang in gesundheitspolitische Konzepte [1] [2] [3]. Dennoch liegt die konkrete Versorgungsrealität psychiatrischer Patienten und Patientinnen weit hinter den aktuellen Forschungserkenntnissen über Geschlechterdifferenzen zurück, sodass geschlechtersensible Therapieangebote in der Psychiatrie bislang noch eine Rarität sind.

Besonders erstaunlich ist, dass es ausgerechnet für traumatisierte Patienten und Patientinnen kaum geschlechtsspezifische Angebote in der Psychiatrie gibt. Unterliegen doch gerade Gewalterfahrungen einer geschlechtsspezifischen Häufung und Überformung [4] [5]. Vor allem unter psychiatrischen und psychosomatischen Patienten und Patientinnen in stationären Institutionen liegen allein die Prävalenzdaten von sexuellem Missbrauch im Durchschnitt bei 20 % [6] [7] [8]. Wobei man aber davon ausgehen muss, dass in psychiatrischen Kliniken die tatsächliche Anzahl von Patienten mit einer Vorgeschichte mit sexuellem Missbrauch höher ist als überhaupt durch Studien erfassbar ist [9].

Zudem unterliegt die Krankheitsverarbeitung und -bewältigung geschlechtsspezifischen Prozessen: Beispielsweise entwickeln Frauen nach einem Trauma doppelt so häufig und lange eine posttraumatische Belastungsstörung als Männer [10].

Auch wenn die Normalität einer zweigeschlechtlichen Welt von unbestrittenem Wert ist, so ist die Möglichkeit der Wahlfreiheit und die Berücksichtigung der speziellen Bedürfnisse von Patienten und Patientinnen ein ebenso großer Wert, der in der psychiatrischen Versorgung etabliert sein sollte. Gerade für Patientinnen mit Gewalterfahrungen bieten „therapeutische Frauenschutzräume auf Zeit” oft erst die Voraussetzung, sich auf eine Psychotherapie überhaupt einzulassen.

Die lebensgeschichtlich geprägte Vulnerabilität für Gewalt bei diesen Patientinnen bedarf als erstes eines sicheren, stressarmen, äußeren Rahmens ohne reale Bedrohungen, um ein Gefühl innerer Sicherheit entstehen zu lassen, auf dem alle weiteren therapeutischen Interventionen basieren.

Dem entgegen steht die Tatsache, dass es auf gemischtgeschlechtlichen Stationen, vor allem auf Akutstationen, durch männliche Patienten häufiger zu Bedrohungen, physischen und sexuellen Übergriffen gegenüber weiblichen Patientinnen kommt [11] [12].

Auch Patientenbefragungen zur Folge beklagten sich v. a. weibliche Patienten über sexuelle Übergriffe und eine mangelnde Privat- und Intimsphäre auf gemischten Stationen, sodass studienübergreifend ca. 20–30 % aller Patientinnen getrenntgeschlechtliche Stationen bevorzugen würden [13].

Dies heißt jedoch keinesfalls, dass die Konfrontation mit anderen Frauen komplikationslos wäre, zumal auch häufig Mütter Täter- oder Mittäterinnen sein können. Lediglich die konkrete Bedrohung im „Hier und Jetzt” ist bei Frauen deutlich geringer und weniger sexualisiert [14] [15].

Von besonderer Bedeutung ist auch die Frage, was für spezielle Bedingungen auf einer solchen Frauenstation gegeben sein müssen, um geschlechtssensibel zu sein. Sicherlich ist es nicht mehr zeitgemäß, Frauen einfach nur von Männern zu separieren, ohne besondere geschlechtersensible Haltung oder spezielle therapeutische Ansätze.

Unserer Erfahrung nach ist es zusammenfassend sinnvoll, Patientinnen 1. mit einer störungsspezifischen Indikation (wobei die Posttraumatische Belastungsstörung hier nur exemplarisch ist) auf einer Frauenstation zu behandeln, wobei zur Indikation aber auch der Wunsch einer Patientin auf einer Frauenstation behandelt werden zu wollen, zählt und respektiert werden sollte. Und 2. sollte diese Frauenstation auch bestimmte Kriterien moderner Psychiatrie und Psychotherapie erfüllen, wie z. B. unter Einbezug des Wissensstandes über Frauengesundheit eine geschlechtersensible Haltung vertreten, frauenspezifische Themen in Zusammenhang mit soziokulturellen geschlechtsspezifischen Handlungsspielräumen in den Einzel- und Gruppentherapien reflektieren, adaptierte Psychopharmakotherapie für Frauen sowie methodenintegrierende und ressourcenorientierte Psychotherapie etc. anbieten. In diesem Rahmen gehört es auch dazu, ein reflektiertes und differenziertes Männerbild zu entwickeln, das feindseligen Übergeneralisierungen und verzerrenden Stigmatisierungen entgegenwirkt.

Wenngleich unsere Behandlungseinheit für Frauen nur ein Beispiel für die Verwirklichung einer geschlechtersensiblen Psychiatrie ist, die selbstverständlich auch für Männer anwendbar ist, so möchte ich dennoch die generelle Behauptung aufstellen, dass sich die Fortschrittlichkeit und Professionalität einer Klinik nicht zuletzt auch darin misst, wie störungsspezifisch und geschlechtssensibel sie ist.

Literatur

Dr. med. Dr. phil. Andrea Moldzio, MBA

Asklepios Klinik Nord, Hamburg-Ochsenzoll

Langenhorner Chaussee 560

22419 Hamburg

Email: a.moldzio@asklepios.com

Prof. Dr. Tilman Steinert

Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg, Abteilung Psychiatrie I der Universität Ulm

88190 Ravensburg

Email: tilman.steinert@zfp-zentrum.de