Psychother Psychosom Med Psychol 2010; 60(2): e1-e2
DOI: 10.1055/s-0029-1246212
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ist Adipositas eine Essstörung?

Obesity: Is it an Eating Disorder?Martina de Zwaan
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Publication Date:
09 February 2010 (online)

Prof. Dr. Martina de Zwaan

Adipositas (BMI30 kg/m2) betrifft etwa 20% der Deutschen Bevölkerung und hat in den letzten Jahrzehnten dramatisch zugenommen. Um adipös zu werden müssen über längere Zeit mehr Kalorien aufgenommen werden als verbraucht werden. Es ist daher nahe liegend, Adipösen mangelnde Willenskraft zu unterstellen und Übergewicht vorwiegend auf das individuelle Verhalten und die Kontrollierbarkeit des Verhaltens zurückzuführen. Dieser Ansicht stimmen 23,5% der Deutschen Bevölkerung zu und sie stellt die Grundlage für die Stigmatisierung und Diskriminierung adipöser Menschen dar [1].

Handelt es sich um eine psychische Störung wenn man zu viele Kalorien zu sich nimmt? Im Speziellen, ist die vermehrte Kalorienaufnahme immer als Essverhaltensstörung zu interpretieren?

Man weiß heute, dass genetische Faktoren sowie die veränderten Lebensbedingungen der modernen Gesellschaft mit Nahrungsüberfluss und Verminderung der Bewegung starke Gegner der bewussten Kontrolle der Nahrungsaufnahme darstellen. Die aufgenommene Essensmenge steigt mit der Portionsgröße unabhängig vom Geschmack. Die ständige Verfügbarkeit von Nahrung fördert den Konsum. Man könnte annehmen, dass die vermehrte Nahrungsaufnahme und die Zunahme der Adipositas ein biologisch gewolltes Resultat darstellt, das sich früher als Überlebensstrategie bewährt hat, heute aber durch ausbleibende Notzeiten zum pathogenen Faktor wird. Die Hinweise mehren sich, dass man unter den gegebenen Bedingungen des Überflusses sein Körpergewicht nur bedingt langfristig beeinflussen kann, da eine dauerhafte bewusste Verhaltenssteuerung nur schwer aufrechterhalten werden kann. Einige Forscher kommen sogar zu dem Schluss, dass wir unser Gewicht genauso wenig beliebig manipulieren können wie unsere Körpergröße [2]. Zudem macht es wenig Sinn, die Mehrzahl der Menschen der westlichen Welt als psychisch krank zu bezeichnen, das würde ein Überdenken des Normalitätsbegriffs erfordern.

Es gibt jedoch eine Subgruppe adipöser Menschen, die ein operationalisierbares pathologisches Essverhalten zeigen, als prägnantes Beispiel gilt die Binge Eating Störung (BES). Die Prävalenz der BES in der Allgemeinbevölkerung ist bei Adipösen etwa doppelt so hoch wie bei Normalgewichtigen [3]. Essanfälle, die nicht mit kompensatorischem Verhalten einhergehen, können zu Übergewicht und Adipositas führen [4]. Bei erfolgreicher Behandlung der BES kann eine weitere Gewichtszunahme zwar verhindert werden, eine wesentliche Gewichtsreduktion konnte in den bisherigen Studien jedoch nicht erreicht werden [4]. Zudem ist die BES mit einer hohen psychischen Komorbidität (Depression, Angst, Persönlichkeitsstörungen) assoziiert, die wiederum Einfluss auf das Essverhalten und Gewicht nehmen kann. Es bleibt die Frage, ob Essverhalten, das zu Gewichtszunahme führt aber nicht die diagnostischen Kriterien einer BES erfüllt, immer als pathologisch zu werten ist. Auch schlecht oder gar nicht definierte Begriffe wie „atypische Essanfälle”, „grazing”, „sweet eating”, „night eating” [5] oder „nibbling” tragen bisher nicht zu einer Klärung bei.

Einige Forscher favorisieren die Idee einer „Nahrungsmittelabhängigkeit” [6] [7]. Unsere Nahrungsaufnahme wird nicht nur durch Mechanismen der Energiehomöostase reguliert, sondern ebenso durch Verhaltensverstärkersysteme. Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass das dopaminerge mesolimbische Verstärkersystem („Belohnungssystem”) bei der Motivation zur Nahrungsaufnahme eine ähnliche Rolle spielen kann wie bei substanzgebundenen Süchten. Eine Subgruppe adipöser Menschen weist möglicherweise eine erhöhte Sensitivität des Belohnungssystems auf. PET Studien konnten zeigen, dass Adipöse im Vergleich zu Normalgewichtigen eine geringere Dopamin-D2-Rezeptor-Verfügbarkeit haben und diese negativ mit dem BMI korreliert. Ob es sich jedoch um einen kausalen Faktor oder um eine Konsequenz bzw. ein Korrelat der Adipositas handelt ist nicht geklärt.

Zuletzt wird spekuliert, dass vermehrte Nahrungsaufnahme eine Methode der Affektregulation oder Stressreduktion darstellen könnte [3] [4]. Obwohl dieses Modell klinisch von hoher Relevanz zu sein scheint, so gibt es nur begrenzt Evidenz dafür, dass Essen aus emotionalen Gründen ursächlich mit der Entwicklung von Adipositas zusammenhängt oder bei Adipösen häufiger auftritt als bei Normalgewichtigen. Vor allem bei Frauen kann gezügeltes Essverhalten Stress-induziertes Essen auslösen [3], sodass Diäten als Methode zur Gewichtsreduktion möglicherweise problematisches Essverhalten unterstützen können.

Zusammenfassend gibt es wenig Hinweise darauf, dass Adipositas generell durch eine psychische Störung, im Speziellen eine Essstörung, bedingt ist. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass bei einer Subgruppe psychische Faktoren, z. B. eine Binge Eating Störung, eine Dysfunktion im mesolimbischen Belohnungssystem oder eine besondere Stressempfindlichkeit, ursächlich an der Genese und Aufrechterhaltung der Adipositas beteiligt sein können.

Literatur

  • 1 Hilbert A, Rief W, Braehler E. Stigmatizing attitudes toward obesity in a representative population-based sample.  Obesity. 2008;  16 1529-1534
  • 2 Friedman JM. Causes and control of excess body fat.  Nature. 2009;  459 340-342
  • 3 Marcus MD, Wildes JE. Obesity: Is it a mental disorder?.  Int J Eat Disord. 2009;  42 739-753
  • 4 Devlin MJ. Is there a place for obesity in DSM-V?.  Int J Eat Disord. 2007;  40 S83-S88
  • 5 Mühlhans B, Olbrich K, de Zwaan M. Night eating syndrome and nocturnal eating-what is it all about?.  Psychother Psychosom Med Psychol.. 2009;  59 50-56
  • 6 Volkow ND, O’Brien CP. Issues for DSM-V: Should obesity be included as a brain disorder?.  Am J Psychiatry. 2007;  164 708-710
  • 7 Kiefer F, Grosshans M. Beitrag der Suchtforschung zum Verständnis der Adipositas.  Nervenarzt. 2009;  80 1040-1049

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Martina de Zwaan

Psychosomatische und Psychotherapeutische Abt.

Universität Erlangen-Nürnberg

Schwabachanlage 6

91054 Erlangen

Email: Martina.dezwaan@uk-erlangen.de

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