Fortschr Neurol Psychiatr 2010; 78(12): 697
DOI: 10.1055/s-0029-1245900
Editorial

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Nervus-occipitalis-Stimulation bei primären Kopfschmerzen: Einfluß zervikaler Afferenzen auf die trigeminale Schmerzverarbeitung?

Occipital Nerve Stimulation in Primary Headaches: Influence of Cervical Sensory Afferences on the Caudal Trigeminal Nucleus?A. Straube1 , M. Dieterich1
  • 1Klinik und Poliklinik für Neurologie, Ludwig-Maximilians-Universität München
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Publication Date:
06 December 2010 (online)

Eine von fast jedem zweiten Patienten mit Kopfschmerzen vorgebrachte Vermutung bezüglich der Ursachen seiner Kopfschmerzen ist die, dass eine Veränderung im Bereich der Halswirbelsäule vorliegen könne [1]. Als Begründung werden sowohl der Beginn der Schmerzen im Bereich des Nackens oder der oberen Halswirbelsäule als auch die Besserung durch Manipulation in diesem Gebiet angeführt. Die jetzt in der Literatur tatsächlich berichteten Besserungen bei chronischen Kopfschmerz-Syndromen – wie beim chronischen Clusterkopfschmerz, weniger häufig bei der chronischen Migräne und der Hemicrania continua – durch elektrische Stimulation oder kurzfristig auch durch die Blockade des Nervus occipitalis major unterstützen auf den ersten Blick diese Annahme [2] [3] [4].

Unter Berücksichtigung langjähriger Forschungsergebnisse ergibt sich jedoch ein anderes Bild. Tierexperimentelle Untersuchungen aus den 90er-Jahren zeigten, dass eine Stimulation die Aktivität des für die kraniale Nozizeption wesentlichen kaudalen Trigeminuskerns erhöht und die Ausschüttung des Markers einer trigeminalen Aktivierung CGRP reduziert [5] [6]. Weiter konnte auch eine Konvergenz von Afferenzen aus der Dura und der oberen Halswirbelsäule auf Neurone im kaudalen Trigeminuskern nachgewiesen werden [7] [8]. Dieses lässt vermuten, dass der häufig berichtete Schmerzbeginn im Nacken als projizierter Schmerz durch eine primäre Aktivierung des kaudalen Trigeminuskerns über durale nozizeptive Afferenzen zu interpretieren ist und eine kontinuierliche Aktivierung zervikaler Afferenzen durchaus ein Trigger für diese trigeminalen Neurone sein könnte.

Warum kann dann aber eine Dauerstimulation der zervikalen Afferenzen eine Besserung der Kopfschmerzen hervorrufen, wenn sie doch mit einer Aktivierung des kaudalen Trigeminuskerns einhergeht? Eine einfache Erklärung wie die Gate-Control-Theorie von Melzack [9], die eine Inhibition von nozizeptiven Afferenzen durch Konvergenzen aus sensorischen Afferenzen auf Hinterhornebene annimmt, kann den häufig erst mit einer zeitlichen Verzögerung von Tagen bzw. Wochen einsetzende therapeutische Effekt allein nicht erklären. Künftige Forschung wird andere Erklärungsmodelle finden müssen, wie z. B. die der Beeinflussung zentraler anti-nozizeptiver Systeme durch Neuromodulation [10]. Für einen eher breiteren Effekt der Stimulation im Sinne einer Neuromodulation spricht durchaus, dass positive Effekte auf primäre Kopfschmerzen auch nach hoher Spinal-Cord-Stimulation, Stimulation der Nervus vagus und des Nervus supraorbitalis sowie des Ganglion spheno-palatinum beschrieben wurden [11] [12].

Weiterhin wird es in der Zukunft wichtig sein, bessere Prädiktoren herauszuarbeiten, wer von einer Stimulation welcher Nerven profitiert und wie die therapeutischen Langzeiterfolge aussehen. Bisher lässt die wissenschaftliche Datenbasis eine abschließende Bewertung nicht zu. Die derzeit vorliegenden Daten zeigen einen anhaltenden Effekt bei etwa 50 % der stimulierten Patienten auf. Placebokontrollierte Studien werden vermutlich wegen der notwendigen Auslösung von Parästhesien im Versorgungsgebiet des stimulierten Nervs methodisch bedingt nicht möglich sein. Größere Serien von Patienten, die nach einem standardisierten Protokoll evaluiert werden, wie es hier von der Arbeitsgruppe aus Essen vorgelegt wird (Müller et al., S. 709) [13], sind daher notwendig, um diese Wissenslücke zur Neuromodulation zu schließen. Daraus lässt sich die berechtigte Hoffnung ableiten, dass die vielfältigen Stimulationsverfahren in der Zukunft eine Reihe neuer Einsichten und möglicherweise auch therapeutischer Indikationen für die verschiedenen Schmerzsyndrome mit sich bringen werden.

Prof. Dr. med. M. Dieterich

Die Literatur finden Sie unter

Prof. Dr. med. Marianne Dieterich

Klinik und Poliklinik für Neurologie

Ludwig-Maximilians-Universität München

Klinikum Großhadern

Marchioninistr. 15

81377 München

Email: marianne.dieterich@med.uni-muenchen.de

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