Zusammenfassung
Zielsetzung: Die GKV (Gesetzliche Krankenversicherung) kann in Deutschland seit 2007 optionale
Selbstbehalttarife anbieten. Fraglich ist, ob diese Tarife die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen
beeinflussen, also die intendierte Steuerungswirkung haben und damit auf Moral Hazard
wirken oder Selbstselektion im Vordergrund steht. Methodik: Mithilfe eines Matchingverfahrens wird die Nachfrage des Jahres 2008 für eine Gruppe
Selbstbehaltteilnehmer und einer gematchten Nichtteilnehmergruppe gegenübergestellt.
Ergebnisse: Der Mittelwertvergleich zwischen der Selbstbehaltteilnehmer- und Nichtteilnehmergruppe
zeigt für die Segmente der Leistungsausgaben Krankenhaus, Arzneimittel und Heilmittel
im Jahr 2008 signifikante Unterschiede. Im Detail weisen die Ergebnisse der empirischen
Analyse für Selbstbehaltteilnehmer eine um 284 € geringere Nachfrage nach Gesundheitsleistungen
nach. Schlussfolgerung: Optionale Selbstbehalttarife der GKV können die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen
beeinflussen, was darauf hinweist, dass ein Teil der Gesundheitsausgaben in Deutschland
auf Moral Hazard zurückzuführen ist. Diese Erkenntnisse sollten bei der gesundheitspolitischen
Weiterentwicklung der Selbstbehalte in der GKV berücksichtigt werden.
Abstract
Aim: Since 2007 the German statutory health insurance can offer optional deductibles.
This fact raises the question whether according tariffs have the potential to influence
individual demand for health services. In detail, it will be analyzed if such tariffs
dispose of the intended effects on moral hazard, or if self selection eliminates these
effects. Method: Using a matching approach a group of individuals opting for an optional deductible
was compared with a group of individuals without optional deductible, regarding the
2008 demand for health care services. Results: By means of t-tests mean values of the two insurance groups were compared with each
other. Significant mean differences reveal that participants of the optional deductible
have a lower demand of health services (284 €) than the reference group. Conclusion: The optional deductibles of the German statutory health insurance has the potential
to influence the demand for health care services, thereby implying that health expenditures
in Germany can partially be traced back to moral hazard. These findings have to be
taken into account in the future health political discussion on optional deductibles.
Schlüsselwörter
Selbstbehalte - Moral Hazard - Selbstselektion - Matching - Gesetzliche Krankenversicherung
Key words
optional deductibles - moral hazard - self-selection effect - matching - statutory
health insurance
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http://www.bmg.bund.de/cln_151/nn_1168248/SharedDocs/Standardartikel/DE/AZ/G/Glossar-Gesundheitsreform/FAQ-Fahrplan.html#doc1945496bodyText2 (Stand: 20.08.2010, 22:01)
1 Die Wahlfranchisestufen betragen 400 sFr, 600 sFr, 1200 sFr oder 1500 sFr. In Abhängigkeit
von der Franchise wird ein Prämienrabatt gewährt.
2 Der Datensatz enthält ca. 59 000 Versicherte.
3 Die freiwillige Versicherung ist in § 9 SGB V geregelt. Über diese Rechtsgrundlage
versichern sich hauptsächlich Selbstständige und Arbeitnehmer mit einem Jahresarbeitsentgelt
über der Jahresarbeitsentgeltgrenze (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V) in der GKV. Die Jahresarbeitsentgeltgrenze
im Jahr 2009 beträgt 48 600 €.
15
4 Den Selbstbehalttarif der Techniker Krankenkasse können nur freiwillig Versicherte
wählen. Nach Holst handelt es sich bei dieser Gruppe um Besserverdienende, die sich
partiell ohnehin der GKV entziehen, da Beiträge nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze
erhoben werden. Felder und Werblow stellen im deskriptiven Teil ihrer Arbeit fest,
dass das Einkommen der Tarifwähler trotz enthaltener Unschärfen eindeutig über dem
der Kontrollgruppe liegt [6].
16
5 Nach Holst nur 0,15 Promille aller GKV-Mitglieder.
17
6 Die Studie unterstellt nach Holst eine Übernutzung von Gesundheitsleistungen.
18
7 Die Studie von Felder und Werblow ermittelt die Steuerungseffekte im Jahr 2003. Mehrjährige
Effekte wurden nicht untersucht.
Norbert Hemken
Tideweg 8
26689 Augustfehn
Email: norbert.hemken@umit.at