Fortschr Neurol Psychiatr 2010; 78(7): 381
DOI: 10.1055/s-0029-1245515
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Autismus im Erwachsenenalter – zu wenig beachtet?

Autism in Adults – too Little Attention?J. Klosterkötter
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Publication Date:
06 July 2010 (online)

Eine offenbar zu wenig beachtete psychiatrische Diagnose im Erwachsenenalter sind Störungen aus dem sogenannten Autismus-Spektrum. Darauf macht der Beitrag zur „Evaluation diagnostischer und therapeutischer Angebote deutscher Universitätskliniken für Patienten mit Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter” in dieser Ausgabe aufmerksam [1]. Klinisch imponieren als Kernsymptome Störungen der Interaktion und Kommunikation sowie repetitive, stereotype Verhaltensweisen. Autismus-Spektrum-Störungen bezeichnen tief greifende Entwicklungsstörungen, die lebenslang bestehen bleiben, wenngleich natürlich durch therapeutische Anstrengungen auch enorme Verbesserungen der klinischen Symptomatik erreicht werden können [2]. Offenbar, und das lernen wir aus dem vorliegenden Beitrag, bleibt aber ein erheblicher Teil von Personen, die an einer autistischen Störung leiden, unerkannt bis weit ins Erwachsenenalter hinein. So entsteht ein bisher noch nicht sicher quantifizierbarer Bedarf für die Diagnostik und Versorgung autistischer Personen im Erwachsenenalter. Folgt man aber aktuellen Untersuchungen, so liegt eine Lebenszeitprävalenz von über einem 1 % für das gesamte Spektrum autistischer Störungen nahe [3]. Obwohl es keine Hinweise dafür gibt, dass die Prävalenz autistischer Störungen steigen würde, steigt aber dennoch stetig die Nachfrage an derartige Einrichtungen im Erwachsenenalter. Dies hat nun auch zu einer gemeinsamen Initiative der „Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (DGKJP)” und der „Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)” geführt, Leitlinien für Autismus-Spektrum-Störungen über die Lebensspanne zu erarbeiten.

Dieses zunehmende Interesse mag an einer allgemein erhöhten Aufmerksamkeit für sozial kognitive Leistungen liegen [4]. Das öffentliche Interesse an diesen Fähigkeiten der Empathie oder des „Sich-Hinein-Versetzen-Könnens” in andere Personen wächst stetig, wie sich an den Medien ablesen lässt, damit natürlich auch am Autismus als Modellerkrankung sozialer Kognition. Darüber hinaus treten kognitive Leistungen aus dem Spektrum der sogenannten sozialen Kognition auch immer mehr in den Vordergrund des grundlagenwissenschaftlichen Interesses (z. B. „social neuroscience”). Dies macht es in einem ersten Schritt erforderlich, das diagnostische und therapeutische Angebot im Bereich von Autismus-Spektrum-Störungen in Deutschland zu sichten und vorzustellen. Folgt man den mehrfach ausgezeichneten und preisgekrönten Forschungen des Anthropologen Michael Tomasello, so sind es sogar genau diese sozial kognitiven Leistungen, die uns als Gattung das soziale Zusammenleben und die Entwicklung unserer menschlichen „Kultur” erst ermöglicht haben, noch bevor uns Sprache zur Verfügung steht [5].

Da es sich bei autistischen Störungen im Erwachsenenalter um ein noch weitgehend neues Forschungsgebiet handelt, ist hier auch die Datenlage noch wenig ertragreich [6]. In dem vorliegenden Artikel wird daher häufig auf die Erfassung autistischer Störungen in der ICD-10 verwiesen. Dazu ist natürlich zu bemerken, dass es sich hier im Wesentlichen um Charakterisierungen handelt, die sich auf den Autismus im Kindesalter beziehen. Diese Unschärfen beziehen sich etwa auf das Geschlechterverhältnis oder die Frage, in wie vielen Fällen tatsächlich auch eine Intelligenzminderung vorliegt, oder die genaue Erfassung von Komorbiditäten. Dabei handelt es sich um noch nicht ausreichend untersuchte Fragestellungen im Erwachsenenalter. Der Beitrag versucht dann, die Angebotslage in Deutschland zu erfassen und stellt schließlich auch die eigene Sprechstunde für Autismus im Erwachsenenalter an der Aachener Psychiatrischen Universitätsklinik vor. Auch hier handelt es sich um einen ersten verdienstvollen Vorstoß, der uns auf diese Problematik aufmerksam macht.

Im Ganzen wird mit diesem Beitrag der Fokus auf eine aus grundlagenwissenschaftlicher Sicht höchst bemerkenswerte und interessante, zugleich aber auch klinisch hochrelevante Diagnosegruppe gelegt. Es wird eine ganze Fülle von wissenschaftlich wertvollen Fragen sichtbar, die einer ausführlicheren wissenschaftlichen Analyse zugeführt werden müssten.

Prof. Dr. J. Klosterkötter

Literatur

  • 1 Michel T M et al. Evaluation diagnostischer und therapeutischer Angebote deutscher Universitätskliniken für Patienten mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASD) im Erwachsenenalter.  Fortschr Neurol Psychiatr. 2010;  78 402-413
  • 2 Remschmidt H, Kamp-Becker I. Das Asperger-Syndrom. Berlin: Springer; 2006: 54
  • 3 Baird G, Simonoff E, Pickles A et al. Prevalence of disorders of the autism spectrum in a population cohort of children in South Thames: the Special Needs and Autism Project (SNAP).  Lancet. 2006;  368 210-215
  • 4 Kumbier E, Haack K, Herpertz S C. Betrachtungen zum Autismus. Ein historischer Streifzug durch psychiatrisch-psychologische Konzepte.  Fortschr Neurol Psychiatr. 2008;  76 484-490
  • 5 Tomasello M. Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Frankfurt am Main: Suhrkamp; 2006
  • 6 Dose M. Das Asperger-Syndrom.  Fortschr Neurol Psychiatr. 2010;  78 233-244

Prof. Dr. med. Joachim Klosterkötter

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität zu Köln

Kerpener Str. 62

50924 Köln

Email: joachim.klosterkoetter@uk-koeln.de

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