manuelletherapie 2010; 14(2): 45-46
DOI: 10.1055/s-0029-1245396
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Der Spagat im akademischen Korsett

Muskuloskelettale Physiotherapie in der Bachelor-Ausbildung der ZHAWJ. Saner-Bissig1 , S. Jan1 , W. Schmidt1 , J. Tobler-Harzenmoser1 , A. van Duijn1 , A. Verbay1
  • 1Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW), Dept. Gesundheit, Institut für Physiotherapie, CH-Zürich
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Publication Date:
19 May 2010 (online)

Als in der Schweiz die Ausbildung der Physiotherapie auf Fachhochschulniveau angesiedelt wurde, stellten sich viele Fragen: Wie wird sich die muskuloskelettale Ausbildung in der Bachelor-Ausbildung verändern? Was bleibt bestehen? Wie gestalten die Dozierenden der Zürcher Hochschule Winterthur den Unterricht mit Berücksichtigung der Rahmenbedingungen?

Im Mai 2004 wurde in der Schweiz der Beschluss verabschiedet, dass neben anderen Gesundheitsberufen die Physiotherapieausbildung nur noch auf Fachhochschulstufe stattfindet, wobei man sich an der Bologna-Erklärung von 1999 orientierte. Im Winter 2005 stimmte das eidgenössische Parlament der Teilrevision des Fachhochschulgesetzes zu. Damit wurde die Bahn frei für eine Reorganisation der Grundausbildung Physiotherapie, die seit Herbst 2006 nun schweizweit an Fachhochschulen (FH) stattfindet. Das berufsbefähigende Studium an der Fachhochschule schließt mit einem Bachelor of Science (BSc) ab und kann ab Herbst 2010 mit einem konsekutiven Master of Science in Physiotherapie erweitert werden. Die altrechtlichen Ausbildungen an den Höheren Fachschulen (HF) werden dieses Jahr enden und die betroffenen Schulen ihre Tore definitiv schließen.

Mit der Umsetzung der Bologna-Deklaration an den Fachhochschulen und der fast gleichzeitigen Ansiedlung der Physiotherapieausbildung auf dem tertiären Level mussten in der Schweiz die Curricula in kurzer Zeit umgeschrieben werden. Eckpfeiler der neu konzipierten Studiengänge bildeten unter anderem folgende Punkte: Berücksichtigung der Herausforderung von akademischer und berufsorientierter Bildung, lebenslanges Lernen, Erhöhung des Anteils selbstgesteuerten Lernens und die Anwendung innovativer Lehr- und Lernmethoden. Rahmenbedingungen wie die Vergabe von 180 ECTS (European Credit Transfer System) innerhalb von mindestens 3 Jahren, die Modularisierung, die definierten Semesterlängen und das Verhältnis von Kontakt- zu Selbststudium definierten den Spielraum mit.

Alles Lehren, Begleiten und Prüfen im Studiengang ist darauf ausgerichtet, die Studierenden für die physiotherapeutische Tätigkeit im präventiven, kurativen, rehabilitativen und palliativen Aufgabenbereich zu befähigen. Im Mittelpunkt stehen daher der Erwerb und das Training von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die zur gezielten physiotherapeutischen Untersuchung, Beurteilung und Behandlung von Patienten führen, ausgehend von einer umfassenden biopsychosozialen Betrachtungsweise.

Mit gut 40 % nimmt muskuloskelettale Physiotherapie einen bedeutenden Anteil der Bachelor-Ausbildung in Anspruch. An der ZHAW werden diese Module durch 5 Dozierende in 5 Parallelklassen mit jeweils 24 Studierenden über die ersten 1,5 Semester gelehrt. Diese Rahmenbedingungen haben für die Dozierenden im muskuloskelettalen Unterricht weitreichende Auswirkungen.

Im Unterschied zu einigen früheren Ausbildungen wird die muskuloskelettale Physiotherapie nicht konzeptorientiert von entsprechenden Experten unterrichtet, sondern es wird Wert auf ein breites Basiswissen von Assessment- und Interventionstechniken und -modellen am Bewegungsapparat gelegt. Die unterschiedlichen Spezialisierungen der 5 Dozierenden konnten prozesshaft in enger Zusammenarbeit des Teams zu einem konzeptübergreifenden Grundfachwissen zusammengetragen werden. Der Unterricht wird anhand von Körperregionen modular aufgebaut. Die praktischen Anteile überwiegen mit 80 % deutlich gegenüber den theoretischen Input-Referaten.

Kernkompetenz ist hierbei wissenschaftlich begründetes, gleichzeitig gewebeorientiertes und reflektiertes Reasoning und Handeln. Als Reflective Practitioners sollen die Studierenden Interaktionen bewusst gestalten und somit den Bedarf und die Bedürfnisse aller am Rehabilitationsprozess beteiligen Personen und Systeme integrieren können. Der von Beginn an integrierte Clinical-Reasoning-Prozess nimmt dabei eine entscheidende und tragende Rolle ein. Gleichzeitig sollen die Studierenden durch die Schulung von metakognitiven Fähigkeiten in die Lage versetzt werden, mit ihren eigenen Ressourcen alle Kompetenzbereiche eigenständig weiterzuentwickeln.

Da die Studieninhalte in kürzerer Zeit gelehrt werden, fordert dies von den Studierenden einerseits ein großes Maß an Selbststudium und andererseits an Transferleistung. Der modulare Aufbau erlaubt es, auch wiederkehrende Elemente (Palpation, Weichteilbehandlung, passive Mobilisation) in immer neuem Kontext mit zunehmender Spezifizierung und Tiefe zu vermitteln. Die Module müssen mit theoretischen und praktischen Leistungsnachweisen abgeschlossen werden.

Wichtig erscheinen vor allem in der Grundausbildung das Vorleben von Werten, das Erleben von sozialer Kompetenz, die verschiedenen Formen der Wahrnehmung und das kritische Mitdenken. Entsprechendes theoretisches und physiotherapierelevantes Grundwissen wird möglichst zeitnah in größeren Vorlesungen von Referenten mit unterschiedlichem beruflichen Hintergrund vermittelt.

Mit dem Problem-Based Learning (PBL) als ergänzende Lehr- und Lernform werden die Inhalte der muskuloskelettalen Physiotherapie vertieft. Hier müssen die Studierenden selbst recherchierte Informationen auswerten, mit bestehendem Wissen verbinden, klinische Entscheidungen daraus ableiten, Behandlungen planen und durchführen sowie neues Wissen an die Mitstudierenden weitergeben. Diese gemischte Form der Vermittlung von Lerninhalten wird sowohl von Dozierenden als auch von Studierenden positiv bewertet.

Welches sind die täglichen Herausforderungen? Die Dozierenden fühlen sich durch die Gratwanderung der Komprimierung des physiotherapeutischen Wissens und Könnens auf das Wesentliche und die Gefahr einer zunehmenden Verdichtung des Unterrichtsinhalts herausgefordert. Schwierigkeiten könnten sich durch den zeitlichen Abstand (7 Monate) zwischen den letzten praktischen muskuloskelettalen Leistungsnachweisen und der tatsächlichen Anwendung in den Praktika im 4. und 5. Semester ergeben. Diesem Problem wird mit strukturierten Skills- und Repetitionsstunden und einem Modul zur klinischen Vertiefung und Vernetzung zu begegnen versucht. Zudem werden auch Leistungsnachweise vor dem Übertritt ins Praktikum entsprechend komplex gestaltet.

Nach beinahe 3 Jahrgängen Erfahrung mit dem fachhochschulspezifischen Curriculum haben wir Rückmeldungen aus der Praxis. Die Resultate deuten darauf hin, wie sich das Kompetenzprofil der an der Fachhochschule Studierenden präsentiert. Es scheint, dass es den Studierenden zu Beginn des Praktikums nicht leicht fällt, ihre praktischen Fähigkeiten an den Patienten umzusetzen. Das Bestreben, ihre Lücken schnell und mit wenig Aufwand zu schließen, scheint sich zu bewahrheiten. Dies kann auf die hohe Lernkompetenz zurückgeführt werden.

Der Schritt der Physiotherapie in die akademische Bildungswelt ist der Beginn eines neuen Selbstverständnisses der Profession. Dazu gehört einerseits die physiotherapeutische Forschung in berufsspezifischen Fragestellungen durch akademisch ausgebildete Physiotherapeuten und die dadurch verbundenen Möglichkeiten akademischer und wissenschaftlicher Karrieren, andererseits aber auch die Chancen, Aus- und Weiterbildungsangebote wissenschaftlich und evidenzbasiert weiterzuentwickeln, ohne dabei auf die Errungenschaften der altrechtlichen Ausbildungen zu verzichten.

Die Dozierenden für muskuloskelettale Physiotherapie im Bachelor-Studiengang freuen sich auf eine noch engere Zusammenarbeit mit anderen Modulen der Aus- und Weiterbildung und mit der mittlerweile auf 12 Mitarbeiter angewachsenen Forschungsabteilung. Zukünftig werden die weiterführenden Angebote wie Master of Science und Master of Advanced Studies mit der Bachelor-Ausbildung abgestimmt, um optimale Übertrittsbedingungen zu schaffen und den Studierenden eine modulare Weiterbildung zu ermöglichen.

Jeannette Saner-Bissig

MSc, Dozentin Institut für Physiotherapie, Departement Gesundheit, Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW)

Bankstr. 4

8401 Winterthur

Schweiz

Email: seat@zhaw.ch

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