Suchttherapie 2009; 10 - A5
DOI: 10.1055/s-0029-1243575

Rausch und Sucht – Eine subjektive Sicht auf ‘Befreiung oder Gefängnis’ 1984

J Böckem 1
  • 1„Der Spiegel“, Hamburg

1984

Drogen begeisterten mich auf eine ähnliche Weise wie Sex – ein Gefühl wie Bäume klettern, Höhlen bauen und Geburtstag haben gleichzeitig, wie Spiele ohne Verlierer und freier Fall ohne Aufprall. Das Gestern und Morgen warf keinen Schatten mehr auf das Hier und Jetzt. So ähnlich hatte ich mich als Kind gefühlt, wenn ich im Spiel versank und Zeit und Raum ihre Bedeutung verloren. Damals, als mein Kinderzimmer meine Burg war und meine Eltern mich vor allem Bösen abschirmten, das außerhalb der Mauern lauern mochte. Heroin versetzte mich in einen Zustand völliger Zufriedenheit, ich war eins mit mir, aller Druck, alle Wut und aller Trotz lösten sich auf, alle Sehnsucht und alle Begierden waren gestillt.

2000

Die Sucht hatte mir die Zeit zum Feind gemacht. Ich wartete. Ständig, in endloser Wiederholungsschleife. Auf das Ende der Schmerzen, die Droge, das nächste Geld, einen Platz in der Entgiftung oder einfach nur darauf, dass der Tag endlich zu Ende ging. Dass alles endlich zu Ende ging. Und dieses Warten zerrte an meinem Verstand, zerrüttete meine Nerven, trieb mich um wie ein Tier im Käfig. Nur die wenigen Momente, in denen die Droge meinem Bewusstsein mit Macht kurz die Augen zudrückte, verschafften mir Linderung. Aber nur für einen flüchtigen Augenblick. Nach jedem Druck lief die Uhr wieder unaufhaltsam gegen mich. Mit jeder Stunde wuchs der Berg an Unerledigtem, Beiseitegeschobenem, der sich drohend an den Rändern meiner Wahrnehmung auftürmte und Schatten warf, die irgendwann sogar der Rausch nicht mehr zu vertreiben vermochte. Nichts strukturiert das Leben mit solcher Eindeutigkeit wie die Sucht. Sie lässt keinen Raum für Zweifel, nicht mal für Entscheidungen. Jeder Tag hat ein klar umrissenes Ziel, alle Energie und Aktivität richtet sich darauf. Zufriedenheit misst sich an der vorhandenen Drogenmenge. Sucht ordnet die Welt.

(aus: Jörg Böckem „Lass mich die Nacht überleben“)

Am Anfang waren Aufregung, Leidenschaft und Ekstase: Ich hatte mich als Teenager in den Drogenrausch verliebt, von der ersten Sekunde an. Eine unglaubliche Erfahrung, intensiv, belebend, erfüllend und befreiend. Einige Jahre später brachten die Drogen mich ins Gefängnis, zunächst im wörtlichen und dann im übertragenen Sinn: Die Heroinabhängigkeit hat viele Jahre meines Lebens überschattet. Sucht, wie ich sie erlebt habe, sperrt uns ein in einem schalen, dumpfen, leeren Leben, eine Existenz auf dem Abstellgleis. Ein Kerker, dem ich nur unter Schmerzen und Anstrengungen wieder entrinnen konnte. Aber Sucht, Krankheit, Isolation sind nicht zwangsläufige Folge des Drogenkonsums. Sucht hat vielfältige, komplexe Ursachen, sie wurzelt in unserem Stoffwechsel, in unserem sozialen Umfeld, unserer Persönlichkeitsstruktur und nicht zuletzt in unseren Konsummustern. Dass Problem ist nicht, dass es Drogen gibt oder Menschen Drogen konsumieren. Dass Problem ist, dass wir meist nicht lernen, sie zu benutzen, ohne Schaden zu nehmen. Trotz allem bin ich davon überzeugt, dass wir in der Lage sind, die Befreiung des Rauschs auf vielfältige Weise zu erfahren ohne im Gefängnis der Sucht zu enden.