Zeitschrift für Klassische Homöopathie 2010; 54(2): 69-75
DOI: 10.1055/s-0029-1242606
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© Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Erfahrungen mit der homöopathischen Arznei Staphisagria[1]

Teil 4-1Christoph Thomas
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Publication Date:
24 June 2010 (online)

Zusammenfassung

In der vorliegenden Fortsetzung der Erfahrungsberichte über Staphisagria werden weitere Forschungsergebnisse zu dieser Arznei mitgeteilt. Das praktische Vorgehen des Verfassers bei der Diagnostik des Gemütszustandes von Staphisagria wird dargestellt. Es wird aufgezeigt, dass bei der Behandlung mit Staphisagria spezielle Besonderheiten bei der Beurteilung der Behandlungsverläufe zu beachten sind.

Anhand einer Textstelle in der Arzneimittellehre Kents wird die These entwickelt, dass bereits Kent bei der homöopathischen Arzneimittelfindung vor denselben Schwierigkeiten gestanden hat, wie sie in der Praxis des Verfassers äußerst häufig aufgetreten sind. Um diese Schwierigkeiten zu meistern, muss nach Auffassung des Verfassers die Technik der homöopathischen Anamnese um die Dimension einer professionell geschulten Wahrnehmung des Gemütszustandes ergänzt werden.

Schließlich wird auf das Stadium der manifesten Psychopathologie von Staphisagria eingegangen und werden äußerlich sichtbare Zeichen bei Staphisagria-Patienten benannt.

01 Der homöopathischen Ärztin Frau Dr. med. Eszter Kálmán Thuráczy aus Budapest in freundschaftlicher Verbundenheit zugeeignet sowie zum Dank für eine jahrelange fruchtbare wissenschaftliche Zusammenarbeit, u. a. bei der Übersetzung der 6. Auflage von Samuel Hahnemanns „Organon” ins Ungarische (erschienen 2005).

Anmerkungen

01 Der homöopathischen Ärztin Frau Dr. med. Eszter Kálmán Thuráczy aus Budapest in freundschaftlicher Verbundenheit zugeeignet sowie zum Dank für eine jahrelange fruchtbare wissenschaftliche Zusammenarbeit, u. a. bei der Übersetzung der 6. Auflage von Samuel Hahnemanns „Organon” ins Ungarische (erschienen 2005).

02 Diese Angaben beinhalten eine geringfügige Korrektur gegenüber meinen im März 2008 gemachten Angaben, wo ich von einer Versagerquote von 40–50 % innerhalb der ersten 17 Jahre meiner Praxis ausgegangen war [20: 16]. Die Versagerquote auf einen definierten Behandlungszeitraum festzulegen, beinhaltet notwendigerweise ein gewisses Element an subjektiver Willkür. Denn erstens handelt es sich ja um einen prozesshaften Verlauf, bei welchem mit zunehmender Behandlungsdauer der Anteil ungelöster Fälle sukzessiv abnimmt. Zweitens sind in diese Schätzwerte auch Patienten eingegangen, die aus der homöopathischen Behandlung nach mehrjähriger Dauer, aber vor Ablauf des genannten Zeitraums wieder ausgeschieden sind – sei es, weil ihr Simillimum noch nicht, sei es, obwohl es bereits gefunden wurde. Außerdem können natürlich auch Simile-Arzneien hilfreich sein. Diese letzteren Fälle sind bei dieser Schätzung nicht berücksichtigt – zum einen, weil sie qualitativ unterschiedlich sind und zum anderen, weil sie, wenn man überwiegend Potenzhöhen zwischen C 1000 und C 100000 anwendet, nach meiner Erfahrung eher die Ausnahme darstellen.

03 Als ich im Oktober 2000 ein Interview mit Dario Spinedi [32] über den Gemütszustand und den Ansatz Rajan Sankarans (siehe z.B. [31]) geführt habe, ging ich zu diesem Zeitpunkt noch von einer generellen Gültigkeit dieses Ansatzes aus. In meiner Praxis hat sich Sankarans Vorgehen bisher jedoch nur bei der Diagnostik von Staphisagria bewährt, dabei allerdings in enorm fruchtbarer Weise.

04 Ohne dass ich in mehreren hundert Fällen immer und immer wieder, bei einer Reihe von Patienten 10–15 Jahre lang, mit großem Einsatz nach einer homöopathischen Lösung gesucht habe und trotzdem fast immer gescheitert bin, hätte ich kaum die Zielstrebigkeit aufgebracht, dort, wo sich mir mit Staphisagria zum ersten Mal ein vager Lichtblick aufgetan hatte, diesen Hinweisen konsequent nachzugehen und sie möglichst weitgehend zu erforschen.

05 Es hat Jahre gedauert, bis ich meine eigenen sehr großen Zweifel überwunden und erkannt hatte, dass ich mit meiner Intuition von Anfang an richtig lag. Die erzielten Resultate haben mich schließlich überzeugt, dass dieser ungewöhnliche Ansatz in der Praxis ausgezeichnet funktioniert. Die Ergebnisse

  • nach 1 Jahr Erprobung von Staphisagria schildert mein erster Bericht vom Mai 2001, veröffentlicht in [20: 21 f.],

  • nach 5 Jahren Erprobung von Staphisagria die ersten beiden Teile meines Erfahrungsberichtes über diese Arznei [17, 18],

  • nach 7 œ Jahren Erprobung von Staphisagria der dritte Teil meines Erfahrungsberichtes [20] und

  • nach 10 Jahren Erprobung von Staphisagria der hiermit vorgelegte vierte Teil meines Erfahrungsberichtes.

06 Eine unschätzbare Hilfe bei der Ausarbeitung des Seelenbildes von Staphisagria waren meine Kenntnisse der und meine Liebe zur schönen Literatur. Der Weg über Arbeitshypothesen auf literarischem Gebiet hat mir die Dimension von Staphisagria erst in vollem Ausmaß bewusst gemacht. Als ich mit der geschilderten Methode der Empathie sowohl an literarische Oevres als auch an einzelne Schriftsteller herangetreten bin, bin ich sofort mit einer großen Fülle an Staphisagria-Themen und -Beispielen beschenkt worden. Diese Arbeitshypothesen auf literarischem Gebiet waren für mich ein Quell geistiger Anregung und Ermutigung, auf meinem Forschungsweg voranzuschreiten. Dies war insbesondere wichtig während der „Durststrecke” in der Anfangszeit meiner Beobachtungen, in der meine Staphisagria-Fälle erst kurze Zeit unter diesem Heilmittel gelaufen waren, so dass sich dessen Wirkung noch nicht verlässlich beurteilen ließ.

07 Die mit Abstand wichtigste Hilfe für den diagnostischen Zugang zur Arznei Staphisagria habe ich durch meine inzwischen fast 2 Jahrzehnte währende enge fachliche Zusammenarbeit mit der Psychotherapeutin Birgitta Grießer (Eigeltingen/Bodenseeregion) erfahren. In diesem Zeitraum hat eine große Anzahl an Patienten gleichzeitig in unser beider Behandlung gestanden. Wir haben uns regelmäßig über diese gemeinsamen Patienten beraten und halten dies bis heute so. Der Erkenntnisgewinn, den mir dieser kontinuierliche Erfahrungsaustausch für das Verständnis von Staphisagria beschert hat, lässt sich nicht hoch genug einschätzen. Bei unseren gemeinsamen Beratungen hatten wir während 10–15 Jahren bei mehreren hundert Patienten das Seelenbild von Staphisagria immer wieder deskriptiv zu erfassen versucht, bis ich schließlich erkannte, dass es sich bei all diesen Fällen stets um ein- und denselben Gemütszustand und um ein- und dasselbe Heilmittel handelt. Unser gemeinsames Ringen, dieses damals noch gänzlich unbegriffene Phänomen immer wieder erneut in Worte zu kleiden und begrifflich auf den Punkt zu bringen, hat die Grundlage dafür geschaffen, dass ich es schließlich eines Tages verstehen und begreifen konnte.

08 Bereits am Beginn der Zusammenarbeit mit Frau Grießer stand ein vermutlicher Fall von verpasstem Staphisagria. 1990 oder 1991 stellten wir zufällig fest, dass wir eine gemeinsame Patientin gehabt hatten. Die homöopathische Mittelfindung war mir bei dieser Patientin nicht gelungen, weshalb ich sie in der Supervision bei Dr. Künzli persönlich vorgestellt hatte (als Fall 411 am 28.11.1989). Wie mir Frau Grießer im Nachhinein die seelische Situation dieser Patientin schilderte, erschien mir so einfühlsam, so kreativ und einleuchtend, dass ich mir dachte: „Diese Therapeutin hat etwas von den inneren Nöten und Konflikten und vom Wesen dieser Patientin verstanden, wovon kein einziger von uns etwa 35 versammelten homöopathischen Ärzten in Künzlis Supervision auch nur das Mindeste geahnt hat. Hier ist jemand, von dem du etwas lernen kannst!” Allerdings hat es dann noch fast 1 œ Jahrzehnte lang gedauert, bis ich erkannt habe, dass es sich bei dem damaligen Fall höchstwahrscheinlich um eine typische Staphisagria-Konstellation und um ein iatrogenes Beschwerdebild des verpassten Staphisagria gehandelt hat.

09 Natürlich sind die „pathologischen Grundgefühle” keine „Abweichungen vom gesunden, ehemaligen Zustande des jetzt Kranken” (Paragraph 6, „Organon”); denn sie sind auch im gesunden Zustand vorhanden. Aber dies verhält sich bei vielen konstitutionellen Zeichen ebenso, z. B. bei der Lokalisation von Muttermalen, bei der Haar- und Augenfarbe etc.

10 Sowohl das kleine Kent'sche Interrogatorium (dieses ist bei mir mit einer Reihe zusätzlicher Fragen angereichert, die ich von Jost Künzli und Dario Spinedi übernommen habe) als auch die gezielte Psychoanamnese auf den Gemütszustand von Staphisagria hin dauern bei mir gegenwärtig jeweils zwischen 1–2 Stunden. Viel wichtiger als die zeitliche Dauer dieser Befragungen ist jedoch die erzielte inhaltliche Tiefe, weil diese darüber entscheidet, ob solch eine Befragung verwertbare Ergebnisse erbringt oder nicht.

11 Eine der beiden Patientinnen, welche die CM nicht ertragen, hat ein autonomes Schilddrüsenadenom und Dr. Künzli hatte gelehrt, dass es bei Patienten mit einer Schilddrüsenpathologie vorkommen kann, dass sie die Potenzhöhe CM nicht vertragen. Die andere Patientin ist eine Greisin, welcher die CM bis zu ihrem 84. Lebensjahr geholfen hat, ab ihrem 85. Lebensjahr jedoch nicht mehr. Inzwischen ist sie 88 Jahre alt und Staphisagria in Potenzen C 200, M und XM tun ihr weiterhin gut.

Dr. med. Christoph Thomas

Raiffeisenstr. 1

78465 Konstanz

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