Via medici 2007; 12(3): 3
DOI: 10.1055/s-0029-1242123
Editorial

Lernen mit Köpfchen

Dieter Schmid
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
16. Oktober 2009 (online)

Kennen Sie das Gefühl? Sie brüten seit Stunden am Schreibtisch über einem Lehrbuch. Ihre Augen schleppen sich mühevoll von Satz zu Satz, und Ihr Gehirn fühlt sich an wie vernagelt. In solchen Momenten haben Sie ein Problem mit Ihrem „Seepferdchen” – zu Deutsch: Hippocampus. Diese wurstförmige Struktur im Archicortex fungiert als eine Art „Türsteher des Gedächtnisses” und lässt partout nur durch, was sie als interessant einschätzt. In unserem Artikel „Gefühlvoll pauken” auf S. 10 erfahren Sie, wie Sie diesen Wächter überlisten können. Ein wichtiger Tipp: Arbeiten Sie mit Emotionen! Ein Satz wie „Göttlicher George Clooney intubiert Patientinnen” ist natürlich völlig bescheuert. Aber genau deswegen wird ihn Ihr Hippocampus als „bemerkenswert” bewerten und abspeichern. Und nicht nur das: Er wird Ihre Großhirnrinde dazu veranlassen, Neurone und Synapsen so umzubauen, dass sich Ihr Langzeitgedächtnis noch in zwanzig Jahren daran erinnert – und damit auch an die fünf Anfangsbuchstaben der Nerven, die aus dem Plexus sacralis hervorgehen [*].

Trotz solcher Tricks: Lernen strengt an. Das gilt nicht nur für Einzelpersonen. Auch Gesellschaften lernen mühsam – manchmal unter Schmerzen. So hat unser Land zum Beispiel erst nach der Katastrophe der NS-Zeit zu einem gesellschaftlichen Konsens gefunden, der die Menschenwürde über Begriffe wie „Rassenhygiene” stellt. Peinlich für die deutsche Ärzteschaft: Als die demokratiemüden Deutschen 1933 die Nazis an die Macht wählten, begrüßten die Spitzen der Medizinerverbände diese Entwicklung ausdrücklich. Bald darauf führten deutsche Ärzte Menschenversuche durch und töteten geistig Behinderte, um die „Erbgesundheit des Volkes” zu fördern. Unter dem Eindruck dieser Gräueltaten formulierten die Richter bei den Nürnberger Ärzteprozessen vor 60 Jahren den „Nürnberger Kodex” – eine Art Deklaration der Menschenrechte für Patienten. Mehr über die Entstehung dieser medizinethischen Grundthesen erfahren Sie im Artikel „Geburtsstunde der Patientenrechte” auf S. 32. Im Artikel „Ärzte für das große Ganze” S. 18 stellen wir Ihnen ein Fach vor, das durch den Missbrauch des Begriffes „Volksgesundheit” während der NS-Zeit in Deutschland lange diskreditiert war und erst in den 90er Jahren wieder bei uns Fuß gefasst hat: Public Health. Wer darin ein Aufbaustudium absolviert, hat gute Chancen auf eine Karriere bei internationalen Organisationen wie UNICEF, WHO oder EU.

Wagt man den Blick über den berühmten Tellerrand, stellt man schnell fest, dass Lernen auch sehr entspannt ablaufen kann: In unserem Auslandsartikel blicken wir dieses Mal in die Niederlande. Holländische Studenten werden so ausgebildet, dass sie im letzten Studienjahr selbstständig arbeiten können. Hierarchie ist auch dort kein Fremdwort. Trotzdem gehen alle freundlich miteinander um, und die Betreuung während der Praxisphasen funktioniert prima. Wie das geht, lernen Sie in unserem Artikel „Kleiner Nachbar, großes Vorbild?” auf S. 14. Unter www.thieme.de/viamedici/downloads/podcasts/uebersicht.html finden Sie außerdem einen Podcast von unserem freien Mitarbeiter Dr. med. Horst Gross aus Berlin. Er spricht darin mit einem deutschen Kollegen, der in Holland arbeitet, über die Stärken des dortigen Ausbildungssystems und Karrierechancen für deutsche Mediziner.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viele aufschlussreiche Umbau-maßnahmen in Ihren Synapsen bei der Lektüre Ihrer neuen Via medici!

Ihr

Dr. med. Dieter Schmid, Redaktionsleitung

1 Göttlicher George (N. glut. sup. und inf.) Clooney (N. cut. femoris post.) intubiert (N. ischiadicus) Patientinnen (N. pudendus).

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