Zahnmedizin up2date 2010; 4(1): 91-112
DOI: 10.1055/s-0029-1240696
Prothetik

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die einseitig verkürzte Zahnreihe

Reiner Biffar, Torsten Mundt
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Publication Date:
25 February 2010 (online)

Einleitung

Mit dem Verlust von endständigen Zähnen werden neue Anforderungen an die diagnostischen und therapeutischen Überlegungen zur prothetischen Versorgung gestellt. Die Bandbreite der einsetzbaren Therapiemittel reicht vom abnehmbaren Zahnersatz über festsitzende Konstruktionen – auch unter Einsatz von Implantaten – bis hin zur Frage, ob im zu planenden Fall auf eine prothetische Versorgung verzichtet werden soll. Wie bei jeder prothetischen Versorgung muss berücksichtigt werden, dass Zahnersatz nicht nur Schäden kompensiert und die Kaufunktion verbessert, sondern gleichzeitig auch ein weiteres Risiko in das Kauorgan einträgt. Zahnzahl, Verteilung der Restzähne in Ober- und Unterkiefer und Zustand der Restzähne bestimmen in hohem Maße den weiteren Zahnverlust und damit auch die Funktionsdauer der prothetischen Versorgung [[1]]. Aus epidemiologischen Daten wird deutlich, dass die Anzahl und die Verteilung der Restzähne einen höheren Einfluss auf das Überleben des Restzahnbestands haben als die Entscheidungen über die eingesetzten prothetischen Konstruktionselemente. Die Wahl der prothetischen Versorgung wird nach einer fachkundigen Beratung durch den Zahnarzt vom Patienten getroffen. Seine Wünsche über Komfort und Ausführungsart bestimmen in hohem Maße die letztendlich gewählte Versorgungsform. Bei einseitig verkürzten Zahnreihen stehen für den Patienten ästhetische Erwägungen an 1. Stelle [[2]].

Bedeutung der funktionellen Asymmetrie

Die einseitige Freiendlücke stellt aufgrund ihrer funktionellen Asymmetrie eine Besonderheit in der prothetischen Entscheidungsfindung dar. Beim Fehlen endständiger Zähne muss im Rahmen der Sekundär- und Tertiärprävention das potenzielle Folgerisiko diskutiert werden. Bei den weiteren Überlegungen sollte bedacht werden, dass durch Kombinationen mit sonstigen Schaltlücken die Entscheidungen bei einseitigen Freiendlücken weitreichender sind, als dies bei der thematischen Fokussierung dargestellt werden kann.

Die spärlichen Prävalenzangaben zu einseitig verkürzten Zahnreihen zeigen übereinstimmend, dass diese Lückengebisssituation bei über einem Zehntel der Erwachsenen zu finden ist. Die Altersgruppe der 50–60-Jährigen weist mit ca. 15–25 % am häufigsten einseitige Freiendsituationen auf [[3], [4], [5]]. Die Study of Health in Pomerania (SHIP-0), eine epidemiologische Untersuchung zum Gesundheitszustand von 4310 Erwachsenen in Vorpommern aus den Jahren 1997–2001 [[6]], bestätigt diese Zahlen (Abb. [1]). Etwas mehr als 10 % der 20- bis 81-jährigen Untersuchungsteilnehmer hatten unilateral verkürzte Zahnreihen. Nach einem Häufigkeitsgipfel im 5. Lebensjahrzehnt sank danach die Prävalenz rapide ab. Frauen waren etwas häufiger betroffen als Männer. Einseitig verkürzte Zahnreihen wurden im Oberkiefer seltener beobachtet als im Unterkiefer. Je mehr Zähne einseitig fehlten, umso häufiger war erwartungsgemäß abnehmbarer Zahnersatz zu finden (Abb. [2]). Der Leitsatz aus den Überlegungen von Koeck [[7]] zur Versorgung der einseitig verkürzten Zahnreihe lautet: „Fehlen der 2. und 3. Molar, so wird nicht versorgt, fehlt zusätzlich der 1. Molar, so kann versorgt werden, fehlt zusätzlich der 2. Prämolar, so sollte versorgt werden, und fehlt auch der 1. Prämolar, so muss versorgt werden.“ Diese Leitlinie findet jedoch nicht immer ihre epidemiologische Bestätigung.

Abb. 1 Prävalenzen unilateraler Freiendsituationen in der Study of Health in Pomerania (SHIP). Abb. 2 Häufigkeiten prothetischer Versorgungen unilateral verkürzter Unterkiefer in Abhängigkeit vom Zahnbestand in SHIP (Study of Health in Pomerania). Leitsatz zur Versorgung der einseitig verkürzten Zahnreihe Nach Koeck 1985 [7] Fehlen der 2. und 3. Molar, so wird nicht versorgt. Fehlt zusätzlich der 1. Molar, so kann versorgt werden. Fehlt zusätzlich der 2. Prämolar, so sollte versorgt werden. Fehlt auch der 1. Prämolar, so muss versorgt werden.

Immerhin blieb ein Drittel der Personen mit einseitigem Verlust der Unterkieferseitenzähne bis einschließlich des 1. Prämolaren unversorgt. In anderen Ländern scheint der Anteil unversorgter einseitiger Freiendsituationen noch höher zu liegen [[5], [8]]. Die klinische Erfahrung, dass Patienten mit abnehmbarem Zahnersatz in einem Kiefer diese Versorgungsform im Gegenkiefer eher akzeptieren, wurde bei den SHIP‐Teilnehmern mit einseitigen Freiendlücken bestätigt: Die Prävalenz von Teilprothesen bei einseitig verkürzter Zahnreihe korrelierte mit dem Zahnbestand und der prothetischen Versorgung im Gegenkiefer (Abb. [3]). Waren beispielsweise Oberkiefer mit Total- oder Teilprothesen versorgt, so wiesen die Teilnehmer mit unilateral verkürztem Unterkiefer ebenfalls vermehrt abnehmbaren Zahnersatz auf. Hingegen war nur etwa ein Fünftel der Personen mit beidseitig vorhandenen Molaren im Oberkiefer und einseitiger mandibulärer Freiendlücke im Unterkiefer prothetisch versorgt, darunter mehrheitlich festsitzende Freiend- oder Implantatkonstruktionen. Bei unversorgter Freiendsituation im Oberkiefer waren bei einseitig verkürzten Unterkiefern ebenfalls keinerlei Versorgungen zu beobachten.

Abb. 3 Häufigkeiten prothetischer Versorgungen unilateral verkürzter Unterkiefer in Abhängigkeit von der Oberkieferversorgung in SHIP.

Literatur

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Prof. Dr. Reiner Hans Herbert Biffar

Direktor der Poliklinik für zahnärztliche Prothetik, Alterszahnmedizin und Medizinische Werkstoffkunde der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

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