Gesundheitswesen 2009; 71 - A200
DOI: 10.1055/s-0029-1239250

Betriebliches Gesundheitsmanagement: Geht es um Menschen oder um Humankapital? Einige kritische Anmerkungen

W Hien 1
  • 1Forschungsbüro für Arbeit, Gesundheit und Biografie, Bremen

Das Feld der betrieblichen Gesundheitspolitik ist breit und variantenreich. Neben dem klassischen Arbeitsschutz haben sich seit den 70er Jahren zusätzliche Programme entwickelt, die zunächst unter dem Begriff der Betrieblichen Gesundheitsförderung rubriziert wurden, doch heute überwiegend als Betriebliches Gesundheitsmanagement bezeichnet werden. In den letzten Jahren lässt sich ein Rückgang verhältnisorientierter Gesundheitsförderungsinstrumente beobachten – hier sind insbesondere Gesundheitszirkel zu nennen – zugunsten verhaltensorientierter Instrumente. Auch der Boom der Begriffe „Beschäftigungsfähigkeit“ und „Eigenverantwortung“ lässt sich in diese Entwicklung einordnen. Zielgruppen und Zielsetzung des Betrieblichen Gesundheitsmanagements orientieren sich am gesunden, hoch leistungsfähigen Menschen, nicht am Menschen in seiner realen Vielfältigkeit. Die These, dass es immer weniger um den realen Menschen und immer mehr um Humankapital geht, das in den gegebenen wirtschaftlichen Strukturen eingesetzt werden soll, ohne diese zu verändern, wird anhand von Beispielen aus der Automobilindustrie und Ergebnissen eigener Studien im IT-Sektor und im Gesundheitswesen belegt. Neben Krankheits- und Frühberentungsdaten werden qualitative, über ein theoretisches Sampling gewonnene Daten aus narrativen Interviews herangezogen. Im Ergebnis zeigt sich: Insbesondere gegenüber älteren und weniger leistungsfähigen Personen zeigen sich strukturell angelegte und arbeitskulturell vermittelte Ausgrenzungstendenzen, während die Teilnahme an Fitnessprogrammen mit ideellen und materiellen Boni belohnt wird. Arbeitende werden dazu angehalten und verführt, ihre Schwächen zu verbergen und „nach außen“ immer Stärke zu zeigen. Ein so verstandenes Betriebliches Gesundheitsmanagement führt zu Krankheitsverleugnung und -verschleppung und ist damit gesundheitspolitisch kontraproduktiv und letztlich auch ethisch unhaltbar.