Gesundheitswesen 2009; 71 - A130
DOI: 10.1055/s-0029-1239180

Alt, aktiv und gesund? Eine Reflektion aktueller Altersleitbilder angesichts sozial ungleicher Gesundheitschancen

S Kümpers 1, A Dieterich 1
  • 1Wissenschaftszentrum, Berlin

Die soziale Ungleichheit von Gesundheitschancen bis ins hohe Alter ist mit Lebenslagen asso-ziiert, in denen verschiedene Vulnerabilitätsfaktoren wie geringes Einkommen, geringe Bil-dung, alleine Leben, soziale Isolation, spezifische Gender-Aspekte und unterschiedliche Migra-tionshintergründe – kumuliert über den Lebenslauf und/oder aktuell im Alter – zusammen treffen. Sozial Benachteiligte sind früher, länger und stärker von (mehrfach) chronischen Krankheiten betroffen.

Vor einem Hintergrund ansteigender Altersarmut findet ein gesellschaftlicher Diskurs statt, der als ‘erfolgreiches Altern’ Autonomie, Aktivität und Gesundheit suggeriert. Die Älteren sollen ihre Gesundheit durch Teilnahme an Gesundheitsförderung/Prävention erhalten – im Sinne ‘aktiven und erfolgreichen’ Alterns. Im Hinblick auf durch den demografischen Wandel erwartete gesellschaftliche Engpässe sollen ‘ungenutzte’ Potentiale der Älteren erschlossen werden, welche sich idealerweise in verbesserter gesellschaftlicher Teilhabe, beispielsweise verstärktem Zivilengagement äußern könnten. Individuelle, die Lebensqualität verbessernde Effekte für die Älteren werden mit der Perspektive eines gesellschaftlichen Nutzens durch geringere Versorgungsbedarfe und zivilgesellschaftliche Beiträge der Älteren oft unreflektiert verknüpft.

Insbesondere in den Debatten um gesundheitliche Prävention für benachteiligte Gruppen bilden Empowerment und Teilhabe zu Recht zentrale Konzepte. Einseitig interpretiert können aber auch diese Konzepte zu Erwartungen werden, die Gebrechlichkeit und Hilfsbedürftigkeit teilweise ausblenden bzw. indirekt stigmatisieren und von multimorbid erkrankten, in ihrer Mobilität eingeschränkten und pflegebedürftigen Menschen nicht oder kaum eingelöst werden können. Diese wiederum sind in einem hohen Ausmaß sozial Benachteiligte.

Vor diesem Hintergrund sollen Leitbilder von Autonomie, Aktivität und Gesundheit im Alter kritisch betrachtet werden. Im Rückgriff auf feministische, gerontologische wie behinderungs-politische Ansätze sollen implizite Bedeutungen dieser Leitbilder verdeutlicht werden, die, zumindest in unreflektierter Verwendung, Denkfiguren neo-liberaler Diskurse entsprechen und mit dem die Gefahr fortschreitender Entsolidarisierung und Exklusion verbunden sind. Andererseits sollen Ansätze zu einem erweiterten Autonomieverständnis aufgezeigt werden, das Krankheit und Abhängigkeit nicht negiert, aber auf die Ansprüche auf Teilhabe und Selbstbestimmung nicht verzichtet. Abschließend sollen Schlussfolgerungen für Prävention und Pflege bei sozial benachteiligten Gruppen älterer Menschen diskutiert werden.