Gesundheitswesen 2009; 71 - A112
DOI: 10.1055/s-0029-1239162

Solidarität im Alltag? Zum Wandel präventiver Verhaltensstile im 20. Jahrhundert

S Hoffmann 1
  • 1Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart

Einleitung/Hintergrund: Chronisch-degenerative Erkrankungen haben im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Infektionskrankheiten von der Liste der führenden Todesursachen verdrängt. Spätestens mit der raschen Verbreitung synthetischer Antibiotika (v.a. des Penicillins) nach dem Zweiten Weltkrieg haben Infektionen ihren Schrecken verloren. Diese Veränderung des Todesursachenspektrums ist in der Medizingeschichte als Epidemiologischer Übergang bekannt.

Material und Methoden: Die Quellengrundlage meines Beitrages ist ein Korpus, das 155 populare Autobiografien aus dem 20. Jahrhundert umfasst. Beide Geschlechter, die Geburtsjahrgänge 1890 bis 1940 und alle sozialen Schichten sind in der Quotenstichprobe ausgewogen repräsentiert. Das Korpus wurde im Rahmen eines umfassenderen Dissertationsprojektes diskursanalytisch, quantifizierend und qualitativ ausgewertet.

Ergebnisse: Der Beitrag zeichnet anhand dieses Autobiografiekorpus den Wandel präventiver Verhaltensstile im Alltag nach, der sich mit dem Epidemiologischen Übergang vollzogen hat: Die Angst vor Ansteckung (v.a. mit Tuberkulose) hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert einen Verhaltensstil geprägt, der durch Distanzierung und Entsolidarisierung gegenüber Kranken und deren Angehörigen gekennzeichnet gewesen ist. Aus Fortschrittsoptimismus und dem Glauben an die Medizin folgte in der zweiten Jahrhunderthälfte ein Präventionsstil, der an medizinischer Krankheitsfrüherkennung (Sekundärprävention) orientiert gewesen ist. Das Individuum, nicht die Solidargemeinschaft bildete in beiden Phasen den Bezugspunkt des präventiven Handelns.

Diskussion/Schlussfolgerungen: Aufgrundlage dieser Ergebnisse kommt der Beitrag zu dem Schluss, dass das Wissen über die Kausalität der Entstehung bzw. Vermeidung von Krankheit in der Mitte des 20. Jahrhunderts soziale Entsolidarisierung überwunden, dafür aber der Medizin die Verantwortung für die Gesunderhaltung übertragen hat.