Gesundheitswesen 2009; 71 - A82
DOI: 10.1055/s-0029-1239132

Transnationale Solidarität? Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung in der Europäischen Union

R Schmucker 1
  • 1Institut für Medizinische Soziologie, Klinikum der Goethe-Universität, Frankfurt a.M.

Einleitung: Im Mehrebenensystem der Europäischen Union (EU) liegt die Gestaltung der Gesundheitssysteme in der Kompetenz der Mitgliedstaaten. Über den Mechanismus der negativen Integration wächst jedoch der Einfluss des Integrationsprozesses auf die nationalen Gesundheitspolitiken. Die Mitgliedstaaten müssen bei der Regulierung ihrer Gesundheitssysteme die Bestimmungen des EG-Vertrags beachten. In den vergangenen Jahren haben, vermittelt über die Rechtsprechung des EuGH, v.a. die vier Grundfreiheiten und das europäische Wettbewerbsrecht gesundheitspolitische Wirkungen entfaltet. Fraglich ist, welche Auswirkungen die binnenmarktgetriebene Europäisierung von Gesundheitspolitik auf solidarische Steuerungsprinzipien im deutschen GKV-System haben.

Material und Methode: Zur Analyse des Stellenwerts solidarischer Prinzipien im Integrationsprozess wurde eine Dokumentenanalyse der gesundheitspolitisch relevanten europäischen Rechtssetzungsakte durchgeführt. Neben den „harten“ Normen – wie dem Vertragstext und den Entscheidungen des Gerichtshofs – wurden auch „weiche“ Regulierungsformen – wie die Offene Methode der Koordinierung (OMK) sowie Erklärungen des Europäischen Rates – hinsichtlich ihrer gesundheitspolitischen Tragweite untersucht.

Ergebnisse: Die Asymmetrie im Verhältnis von europäischer Wirtschafts- und Sozialintegration findet ihren Niederschlag auch im Bereich der gesundheitspolitischen Regulierung. Zwar findet sich das Bekenntnis zu einem europäischen Sozialmodell und zu solidarisch organisierten gesundheitlichen Versorgungssystemen in einer Reihe von Verlautbarungen auf der EU-Ebene. Dabei handelt es sich ganz überwiegend jedoch um rechtlich nicht bindende Erklärungen und Stellungnahmen. Dem steht die unmittelbare Wirkung des Binnenmarkt- und Wettbewerbsrechts auch in der Gesundheitspolitik gegenüber. In der Konsequenz werden nationale gesundheitspolitische Arrangements in Frage gestellt, die u.a. auch dem Ziel einer solidarisch organisierten Gesundheitsversorgung dienen. Es zeigt sich allerdings auch, dass die „weichen“ Bekenntnisse zum Solidarprinzip nicht völlig wirkungslos bleiben. In einigen EuGH-Entscheidungen zur Gesundheitspolitik wird auf das Europäische Sozialmodell Bezug genommen, um damit solidarische Steuerungselemente vom Wettbewerbsrecht auszunehmen.

Schlussfolgerungen: Gesundheitsreformen in Deutschland stehen unter einem binnenmarktrechtlichen Vorbehalt. Dieser wirkt umso stärker, je mehr marktorientierte und wettbewerbliche Steuerungselemente in die GKV eingeführt werden. Die Verteidigung solidarischer Prinzipien gegenüber dem europäischen Binnenmarktrecht ist daher auf eine Stärkung des Solidarprinzips durch