Psychiatr Prax 2009; 36(8): 359-361
DOI: 10.1055/s-0029-1223375
Debatte: Pro & Kontra

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Zulässigkeit von Placebos im klinischen Alltag

The Permissibility of Placebos in Clinical Practice Pro:Marc  Walburg, Kontra: Klaus  Schonauer
Further Information

Publication History

Publication Date:
13 November 2009 (online)

Pro

Die therapeutische Medizin hat einen Paradigmenwechsel im Arzt-Patient-Verhältnis durchlaufen, insoweit die traditionell paternalistische Rolle des Arztes einer stärkeren Selbstbestimmung des Patienten Raum gegeben hat. Ein möglichst freies und informiertes Einverständnis des Patienten in diagnostische und therapeutische Entscheidungen hat sich als Standard etabliert. Missachtung des Selbstbestimmungsrechts und der Aufklärungspflicht gilt als Verstoß gegen die Berufsordnung [1].

Ein damit verknüpftes Problem stellt die Verabreichung von Placebos dar. Es muss zunächst auf semantischer Ebene zwischen dem Placeboeffekt, der praktisch jede therapeutische Intervention begleitet und dessen Ursachen vielfältig sind, und der Placebogabe unterschieden werden [2]. Nur letztere und die damit verbundenen ethischen Fragen stehen hier zur Debatte. Die Placebogabe wird im Rahmen klinischer Studien offen, wenngleich üblicherweise verblindet praktiziert, was für den klinischen Alltag nicht zutrifft. Außerhalb von Studien wird die Gabe von Placebos ohne Aufklärung des Patienten ethisch kontrovers und in der jüngeren Vergangenheit oft als inakzeptabel beurteilt [3]. Kritik richtet sich vor allem gegen die Täuschung des Patienten, welche das Vertrauen in den einzelnen Arzt, aber auch in den gesamten Berufsstand untergraben kann. Die Gabe von Placebos ohne Aufklärung ist einigen Untersuchungen zufolge dennoch verbreitet [4] [5].

Es wird hier die These vertreten, dass sich im Einzelfall die Gabe von Placebos und verantwortungsvolles ärztliches Handeln nicht ausschließen. Sowohl die traditionellen als auch die modernen Berufsordnungen lassen Raum für individuelle ethische Erwägungen, auch dahingehend, dem Patienten bestimmte Informationen vorzuenthalten. Grundlegende Voraussetzungen für eine ethisch vertretbare Placebogabe wurden bereits anderweitig diskutiert [6] [7]. Fokussiert wird hier auf die Frage der Transparenz des ärztlichen Handelns. Historisch betrachtet gab es bereits seit der Antike kontroverse Standpunkte.

Die Frage der Verabreichung eines Placebo stellt sich vor allem dann, wenn Leidensdruck und Heilungserwartungen des Patienten einer begründeten Skepsis des Arztes bezüglich der Indikation medikamentöser Interventionen gegenüberstehen. Der Arzt befindet sich im Spannungsfeld von Fürsorge- und Aufklärungsgebot und muss zunächst eine individuelle Priorisierung vornehmen. Bezugsrahmen ist das Arzt-Patient-Verhältnis, welches asymmetrisch konstituiert ist [7]. Während der Arzt als Experte für den Therapieprozess diesen aktiv steuert, ist der Patient Experte für seine individuellen Beschwerden, Bedürfnisse und Erwartungen. Es ist an ihm, sich auf die ärztliche Expertise einzulassen. Die Behandlungsmodelle von Patient und Arzt können mehr oder weniger stark divergieren. Die Auswahl der Therapieziele ist Verhandlungssache [8]. Ein Placebo kann die Positionen im Sinne eines – wenngleich suboptimalen – Beziehungs- und Bearbeitungsangebots bzw. einer symbolischen Kommunikation einander annähern. Wie aber ist längerfristig zu verfahren, wenn letztlich das Vertrauen auf dem Spiel steht und eine stabile Veränderung angestrebt werden soll?

In der Mehrzahl der Fälle wird in der Praxis der somatischen Medizin die Gabe von sogenannten Pseudoplacebos, also von unspezifisch wirksamen Pharmaka, wie beispielsweise Antibiotika bei Virusinfekten, der Verabreichung völlig inerter Präparate vorgezogen [9]. Ob sich der grundsätzliche Konflikt im Arzt-Patient-Verhältnis durch die Gabe von Pseudoplacebos statt echten Placebos auflösen lässt, ist zu bezweifeln. Der Erklärungsnotstand gegenüber dem Patienten wird lediglich abgemildert. Es wird eine (pseudo-)wissenschaftliche Bemäntelung ermöglicht, das ethische Dilemma bleibt jedoch bestehen [10]. Der Täuschungsaufwand ist möglicherweise geringer, wird aber durch eine Selbsttäuschung des Arztes erkauft, insoweit sich dieser u. U. auch längerfristig nicht dem notwendigen Klärungsbedarf widmet. Wer heilt, hat aber nur dann recht, wenn er sich auch den Konsequenzen stellt.

Die Psychiatrie kann insofern als Sonderfall gelten, als die kognitiven und motivationalen Voraussetzungen von informiertem Einverständnis durch krankheitsbedingte Einschränkungen der freien Willensbildung – häufiger als in anderen Fachgebieten – mehr oder weniger beeinträchtigt sein können und das therapeutische Privileg gegenüber der Selbstbestimmung des Patienten an Bedeutung gewinnt. In der Psychiatrie treten außerdem aufgrund der Mehrdimensionalität der Störungen häufiger Therapiesituationen auf, in denen die Kriterien der wissenschaftlichen (oder evidenzbasierten) Medizin nicht mehr ohne weiteres anwendbar sind. Diese Beobachtung gilt unabhängig von der jeweiligen diagnostischen Kategorie. Als alltägliche Beispiele seien ein objektiv nicht indiziertes oder sogar potenziell schädliches Beharren eines Patienten auf Gabe eines Medikaments und der häufig nicht zu rechtfertigende Trend zur Polypharmazie bei pharmakoresistenten Erkrankungen genannt. Gleichwohl kann gerade in diesen Fällen ein erheblicher Entscheidungsdruck auf dem Arzt lasten. Die Verordnung eines oder mehrerer Präparate vollzieht sich dann eher im bereits genannten Sinne eines Beziehungsangebots oder symbolischen Heilungsversprechens als auf Grundlage einer spezifischen Indikation. Die Gabe eines Placebos kann in dieser Situation entlastend und einer fragwürdigen Therapieeskalation entgegen wirken. Sie kann sogar die Voraussetzung für eine Fortsetzung der Behandlung sein, wenn ansonsten ein vorzeitiger Abbruch droht.

Es ist oft unumgänglich, erst einmal den Bedürfnissen und Erwartungen des Patienten entgegenzukommen, bevor in einen transparenten Veränderungsprozess übergegangen werden kann. Ein Placebo kann dies erleichtern. Eine langfristig auf Placeboverordnung beruhende Therapiestrategie wäre allerdings kontraproduktiv. Der Selbstaufklärung des Arztes hinsichtlich des geeigneten zeitlichen Ablaufes sollte die Aufklärung des Patienten über die Tatsache der Placebogabe folgen, ansonsten verschärft sich das ethische Dilemma durch zunehmende Verstrickung in Widersprüche. Bei ausreichendem Beziehungskredit [8] wird ein solches Vorgehen kein Tabu bedeuten. Es bedarf der Ergänzung durch Maßnahmen, die sich möglichst störungsspezifisch mit der Klärung und Umstrukturierung zugrundeliegender Ursachen und Motive befassen. Fatal wäre eine Fixierung der Beziehungs- und Bearbeitungsstörung auf Ebene der Medikation.

Die allgemein gehaltene Eingangsfrage, ob Placebos ohne Aufklärung zulässig sind, ist in differenzierter Betrachtung somit dahingehend zu beantworten, dass in bestimmten Konstellationen und im Rahmen eines übergeordneten Konzeptes eine „heilsame” Täuschung durch Placebogabe zumindest vorübergehend vertretbar ist. In Zeiten einer Wertepluralisierung und komplexer Behandlungssituationen kann die Gabe von Placebos den therapeutischen Handlungsspielraum erweitern. Es sollte dennoch eine Ausnahme bleiben. Nicht ein einseitig auf das Täuschungsverbot bezogenes fundamentistisches Ethos, sondern eine immer bessere Kohärenz und Transparenz von kommunizierbaren Therapiezielen zwischen Arzt und Patient ist die hier vertretene Richtlinie.

Literatur

Dr. med. Marc Walburg

Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Evang. Krankenhaus Elisabethenstift gGmbH

Landgraf-Georg-Straße 100

64287 Darmstadt

Email: walburg.marc@eke-da.de

Prof. Dr. med. et phil. Klaus Schonauer

Zollernstr. 4

78462 Konstanz

Email: praxis-schonauer@t-online.de

    >