Psychiatr Prax 2009; 36(4): 200
DOI: 10.1055/s-0029-1222547
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Media Screen
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Mängelexemplar

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Publication Date:
08 May 2009 (online)

 

Viele reiben sich die Augen, wenn sie erfahren, dass eine Ex-VIVA- & -MTV-Moderatorin vom Typ "freche Berliner Schnauze" einen Roman über eine depressive junge Frau schreibt. Aber sie kanns.

Man begleitet die 27-jährige Ich-Erzählerin über eineinhalb Jahre von den Anfängen ihrer depressiven und Angstsymptome durch belastende und auch hilfreiche Beziehungen, in ihre Familie und den Beruf, in die Psychotherapie, in eine psychiatrische Notaufnahme und die ambulante psychiatrische Behandlung. Interessant und anrührend wird dieser Roman jedoch nicht durch die äußeren Ereignisse, nicht durch das Auf-und-Ab der Symptome und mehr oder weniger erfolgreicher freundschaftlicher und therapeutischer Begegnungen, sondern durch die nachvollziehbare und sehr persönliche Schilderung des inneren Erlebens der Protagonistin von ihren Reaktionen auf Therapiesituationen bis hin zu dem Sog, den eine Schere im Verlauf einer suizidalen Krise auf sie ausübt. Neben solchen sehr dichten Szenen gibt es zwar in der zweiten Hälfte des Buches ein paar Längen, aber auch bei Depressionen passiert mitunter einige Zeit wenig, und die Dinge müssen erst reifen.

Kuttners Sprache ist erwartungsgemäß frisch und direkt. Vor allem Menschen ihrer Generation dürften sich angesprochen fühlen - zumal vereinzelt mediale Ereignisse und Personen erwähnt werden, über die ein 20 Jahre älterer Leser ohne Privatsenderkenntnisse erst Erkundigungen einziehen muss ("Niels Ruf? - nie gehört").

"Depression kann jeden treffen" - diese Grundaussage des Bündnisses gegen Depression wird in Kuttners Buch plastisch illustriert. Es ist ein Beitrag zur Entstigmatisierung der Krankheit, ein gelungener Beitrag zur Rolle von Beziehungen in Depressionen und ein differenzierter, offener Beitrag zur Bedeutung von Psychotherapie und Psychiatrie in der Bewältigung einer existenziellen Krise. Es ist eher kein Buch für Patienten mit Altersdepression, aber jungen Leuten und ihren Behandlern würde ich es empfehlen. Bei einer Startauflage von 100 000 Exemplaren ist ohnehin damit zu rechnen, dass man bald darauf angesprochen wird. Da beruhigt mich, dass Medikamente nicht schlecht wegkommen und ein zunächst eher unsympathischer "Popstarpsychiater" letztlich die wichtigste Intervention landet.

Martin Hambrecht, Darmstadt

Email: hambrecht.martin@eke-da.de

Kuttner S. "Mängelexemplar". Roman. Frankfurt: S. Fischer, 2009; 261 S., Kart., 14,95 € (sFr 26,90), ISBN 978-3-10-042205-7

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