Psychiatr Prax 2009; 36(4): 194-195
DOI: 10.1055/s-0029-1222539
Serie ˙ Szene ˙ Media Screen
Szene
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Mein gewebtes Bild

Further Information

Publication History

Publication Date:
08 May 2009 (online)

 

Am Anfang wusste ich überhaupt nicht, was das soll - Beschäftigungstherapie. Relativ widerwillig und missmutig ging ich zum ersten Mal hin. Der Ergotherapeut fragte mich, was ich machen möchte. Ich war irritiert - sollte er mir nicht sagen, was ich hier machen soll?

Wie auch immer, ich entschied mich dann ziemlich schnell für ein gewebtes Bild. Wolle ist einfach mein bevorzugtes Material, und wenn ich hier bei dieser Beschäftigungstherapie schon was machen musste, dann wenigstens mit einem Material, mit dem ich gern umgehe. Ein Gedanke ging mir bei meiner Auswahl durch den Kopf: "Wenn ich mir nach meiner Entlassung eine eigene Wohnung suche, habe ich schon mal was Schönes für eine Wand..."

Der Anfang war hakelig und schwierig. Der Ergotherapeut zeigte mir nur das Notwendigste, und zuerst fühlte ich mich etwas überfordert und auch allein gelassen. Außerdem hatte ich noch sehr mit meinen blöden, traurigen Gedanken zu kämpfen und wollte denen lieber nachhängen. Ich dachte, während ich die Kettfäden auf den Webrahmen spannte, die ganze Zeit nur an meinen Ex-Freund, an die Trennung, an meine Eltern usw. und wollte mich nicht auf eine Ablenkung einlassen.

Irgendwann jedoch, so etwa beim dritten Mal Beschäftigungstherapie, kamen mir beim Weben urplötzlich lauter Gedanken. Ich stellte fest, dass dieses gewebte Bild weitaus mehr ist als nur ein gewebtes Bild. Die Anspielungen des Ergotherapeuten taten ihr Übriges. Damit meine Gedanken, die mir so beim Weben kamen, nicht verloren gingen, habe ich sie so nach und nach aufgeschrieben.

Ein Gedanke, der mir eben gerade beim Weben an meinem Bild gekommen ist: "Aller Anfang ist schwierig, aber jetzt kriege ich langsam den Durchblick, wies geht..."

- Dies bezieht sich gleichermaßen auf mein gewebtes Bild wie auf mein Leben - mein Leben ist wie ein Bild, an dem ich selber webe. Beim Tun erst findet man heraus, wie manches einfacher geht, was man falsch macht, was man besser oder einfacher machen könnte...

Wieweit ich den Faden durchziehen muss, um Anschluss an die anderen Farbfelder zu bekommen

- Wie weit ich gehen darf oder muss, um andere Menschen zu erreichen. Was ZU weit ist oder ZU kurz. Ich bei anderen, andere bei mir...

Wenn ich abgelenkt bin oder mich ablenken lasse, mache ich Fehler. Wahrscheinlich ist hier nichts zufällig. Noch nicht mal die Geschwindigkeit, in der ich mein Bild hier bei Herrn W. fertig bekomme?

- Auch im Leben ist wohl das Meiste nicht zufällig - Situationen, in die man gerät, Partner, die man sich irgendwie aussuchtdie Geschwindigkeit, in der es mit meinem gewebten Bild unterschiedlich voranging, hatte auch ganz viel mit den Erkenntnissen zu tun, die ich hier so "nebenbei" hatte.

Ich kann auch zwischendrin noch mal was aufribbeln oder "nachbessern", auch wenn ich schon höher bin...

- In meinem Leben kann ich früher gemachte Fehler manchmal wieder gut machen oder auch den eingeschlagenen Weg verlassen und in eine andere Richtung gehen oder auch im Rückblick Entscheidungen revidieren. Oder ich kann schmerzhafte Erinnerungen loslassen oder mich mit ihnen versöhnen (= "nachbessern").

Interessant sind auch die Gespräche der anderen und dabei zuzuhören... da versuchen die, sich gegenseitig mit ihrem Drogen-Insiderwissen zu übertrumpfen! ("Cool", aber ich kann nicht mitreden - zum Glück!) Meine Pausen bestimme ich selber! Mal den anderen zugucken, was DIE so machen...

- Mal über den eigenen Rand schauen und bei anderen gucken, was die so für Erfahrungen haben, oder was das für Menschen sind - und dabei selber feststellen, wie ich bin, wie ich sein möchte, oder auch, was ich nicht sein möchte. Mal innehalten in dem, was man tut. Selber entscheiden, wann man innehält.

Wenn ich dem Nächsten hier erklären sollte, wie das geht mit dem gewebten Bild: es gibt keine richtige Anleitung. Man bekommt das heraus beim Machen...

- Wenn ich anderen Menschen erklären soll, wie sie ihr Leben leben sollen, gibt es dafür auch keine Anleitung. Jeder muss das selber herausfinden, und jeder macht das irgendwie anders...

Manches mache ich umständlich, wo ich erst hinterher sehe, dass es auch einfacher gegangen wäre. Manches mache ich immer wieder umständlich...

Es kann auch vorkommen, dass trotzdem wieder Fehler passieren, wenn ich denke, jetzt weiß ich, wie was geht und dann zu schnell und hastig werde. Manchmal denkt man zu früh, von einer Farbe ist es genug und schneidet den Faden zu früh ab. Aber man kann sich ja noch Nachschub holen.

- Die Farben meines Webbildes stehen für mich für die Gefühle. Manchmal hat man im Leben nicht genug Gefühl für etwas, manchmal hat man Sehnsucht nach mehr Gefühl. Das Schöne ist, dass ich lernen kann, mir von allem, was ich brauche, genug zu holen, sodass keins der Gefühle zu kurz kommt. Ich muss halt nur begreifen, wie man sich "Nachschub" holt. Ich fange an, von selbst zu merken, wo noch etwas fehltich fange an, besser auf mich zu achten.

Selbst ein Blinder würde merken: Manche Farbfelder sind dicker als andere.

- + Manche Gefühle sind stärker als andere, das merkt man schon oberflächlich betrachtet (oder "befühlt").

Zum Glück hat mein Bild leicht angefangen. Die schwierigeren Stellen kamen erst, als ich schon etwas Erfahrungen gesammelt hatte!

- Mein Bild steht für mein Leben. Am Anfang hatte ich nur eine Farbe, mit der ich gewebt habe - als Säugling war ich da und meine Mutter hat mich versorgt. Je älter ich wurde, umso mehr musste ich lernen, mich selber zu behaupten.

Bei manchen Farbzusammenstellungen sieht man erst hinterher, im fertigen Bild, dass irgendeine Farbe unangenehm heraussticht. Das hatte ich mir anders vorgestellt.

- Im Leben sieht man manchmal mit Abstand einiges anders. Manchmal kann man bestimmte Dinge auch erst mit Abstand sehen. Manches fühlt sich auch in der Erinnerung anders an als in der Zeit, in der man mittendrin steckte.

Manche Fäden sieht man nicht (oder nur am Anfang, später nicht mehr, z.B. die Kettfäden) und doch sind die da! Und JEDER Faden ist wichtig! Auch die verdeckten.

- + Manche Gefühle sind verdeckt, man spürt sie nicht oder zeigt sie anderen nicht, und doch sind sie da. Und sie sind auch wichtig. Als Kind zeigt man alle Gefühle deutlich und unmittelbar, später lernt man, manches zu verstecken.

Beim Weben entsteht oft erst eine immer genauere Vorstellung davon, wie man es haben will.

- Das kenne ich auf mein Leben bezogen schon in vielen Zusammenhängen. Je jünger ich war, umso vager war meine Vorstellung davon, was ich will und was ich NICHT will. Mit wachsender Lebenserfahrung wurden viele Vorstellungen konkreter. Aber ich muss auch jetzt noch dazulernen.

Wie groß die einzelnen Flächen sind, bestimme ICH selbst!

- Wie viel Anteil (Raum) ich einem bestimmten Gefühl in meinem Leben gebe, bestimme ich selbst.

Manchmal bin ich so in Fahrt, dass ich nur schwer aufhören kann (MUSS, weil die Zeit zu Ende ist, leider).

- Manchmal gehen meine Gefühle mit mir durch.

Manchmal hätte ich Lust, zwischendurch noch ein anderes Projekt zu beginnen (z.B. heute, was zu häkeln).

- Manchmal möchte ich mit etwas anderem von mir selbst und meinen Gefühlen ablenken.

Beim letzten Mal war ich zu abgelenkt durch äußere Einflüsse: ich war genervt durch die zu laute und ätzende Musik, und ich habe zu viel bei den anderen geguckt. Dadurch sind mir dauernd Fehler passiert, und ich musste ständig wieder aufribbeln. Bin nicht gut vorangekommen und war anschließend unzufrieden mit mir selbst, was den ganzen Tag anhielt.

- Ich muss versuchen, bei MIR SELBER zu bleiben.

Ich frage mich heute morgen schon die ganze Zeit: Wenn die Farben (Schussfäden) für meine Gefühle stehen - wofür stehen dann die Kettfäden?

- Die Kettfäden stehen vielleicht für das Gerüst, das mir meine Eltern mitgegeben haben - meinen Körper, meinen Geist, meine Gesundheit, meine Ausbildung und Liebe - eben alles, was mich überhaupt erst fähig macht, mein Leben zu leben?

Wenn man fertig mit dem Weben ist, kann man trotzdem noch mit anderen Techniken andere Farben ins Bild bringen: Durch Aufsticken oder Aufknüpfen. Dadurch werden manche Flächen erhaben, das Bild wird plastischer. Ebenso durch das "Hinterweben" bestimmter Farben, wie bei meiner Wolke und der Sonne.

- Auch später lohnt es sich noch, über Vergangenes nachzudenken und den Gefühlen nachzuspüren, die man damals hatte. Manchmal kommen erst hinterher Gefühle hoch. Neue Erkenntnisse über sich selbst.

Wenn ich mit großer Ausdauer und Sorgfalt und in Ruhe an meinem Bild arbeite (wenn ich viel Aufmerksamkeit investiere), wird es richtig gut. Ich bin zufrieden.

- Wenn ich gut auf meine Gefühle achte und sorgsam mit mir und anderen umgehe, geht es mir gut.

Auf der Rückseite meines Bildes herrscht Fadenchaos. Auf der Vorderseite sieht man das nicht.

- Innen drin in mir herrscht manchmal Gefühlschaos. Das sieht man aber von außen nicht (Fassade). Und trotzdem ist es da.

Aber ich kann die Fäden meines Bildes ja vernähen

- = Ordnung in meine Gefühle bringen.

Martina Zastrow

Mit vielem Dank an den Ergotherapeuten Niels Willert und Oberarzt Dr. Reinhard Dübgen

Korrespondenzadresse:

Email: Reinhard.Duebgen@pk.lueneburg.de

    >