Psychiatr Prax 2009; 36(2): 96-97
DOI: 10.1055/s-0029-1220830
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Leserbriefe
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Publication Date:
08 April 2009 (online)

 

Die Anpassungsstörungen wurden von uns als Thema für eine Übersichtsarbeit gewählt, da man in der klinischen Praxis häufig mit Patienten dieser Diagnosegruppe zu tun hat. Die Anpassungsstörungen werden in den Lehrbüchern meist eher kursorisch behandelt, evidenzbasierte Behandlungsleitlinien gibt es bisher nicht. Wir haben durch eine ausgedehnte Literatursuche versucht, möglichst viele Daten zusammenzutragen, und auf dieser Grundlage Schlussfolgerungen für die Praxis zu ziehen. Wir bedauern, wenn von uns viele Fragen nicht ausreichend diskutiert und beantwortet wurden. Aus unserer Sicht werden im Leserbrief von F. Böhme wichtige Punkte angesprochen, die einer weiterführenden Diskussion bedürfen. Wir denken jedoch nicht, dass wir die aufgeworfenen Fragen abschließend beantworten können.

1. Epidemiologie der Anpassungsstörungen

Leider haben wir in unserer Literaturrecherche nur wenige Arbeiten zur Epidemiologie der Anpassungsstörungen gefunden. So wurde diese Diagnose nicht in große klassische epidemiologische Untersuchungen wie die "Epidemiologic Catchment Area (ECA)-Studie" oder die "Upper Bavarian Study (UBS)" aufgenommen. Die von F. Böhme angesprochene Zunahme von Patienten mit psychosozialen Belastungen in der nervenärztlichen Sprechstunde sollte beachtet werden. Es könnte sich lohnen, dieser Beobachtung weiter nachzugehen, beispielsweise auf der Grundlage von Daten der Krankenkassen. Diese oder ähnliche Fragestellungen sind eine wichtige Aufgabe für die Versorgungsforschung [1]. Es lässt sich darüber spekulieren, ob die zunehmenden Bemühungen einer "Entstigmatisierung" der Psychiatrie und Nervenheilkunde dazu geführt haben, dass inzwischen mehr Patienten mit Anpassungsstörungen nervenärztliche Praxen oder psychiatrische und psychotherapeutische Kliniken aufsuchen.

Weiterhin muss die Frage nach der Diagnosestabilität beachtet werden. In bisherigen Untersuchungen gibt es Hinweise, dass es bei vielen Patienten mit einer Anpassungsstörung im weiteren Verlauf zu einem Diagnosewechsel kommt [2]. In diesen Fällen könnte die "abnorme Reaktion" auf einen psychosozialen Belastungsfaktor das Vorstadium einer "spezifischeren" psychischen Erkrankung angesehen werden, beispielsweise einer Schizophrenie oder einer depressiven Störung. Diesen Befunden kommt auch im Zusammenhang mit der Diskussion um Früherkennungs- und Frühinterventionsmöglichkeiten eine Bedeutung zu. Um weitere empirische Daten zu sammeln, wird in unserer Klinik derzeit eine Follow-up-Studie an ehemaligen stationär aufgenommenen Patienten mit der Diagnose einer Anpassungsstörung durchgeführt.

2. Krankheitsbegriff in der Psychiatrie

Von F. Böhme wird zu Recht darauf hingewiesen, dass in ICD-10 und DSM-IV auf den Begriff der "Krankheit" verzichtet und stattdessen der Terminus "Störung" verwendet wird. Wir sehen eine fortlaufende Diskussion um den Krankheitsbegriff in die Psychiatrie als wichtig an, wie sie beispielsweise von H. Helmchen aufgegriffen wurde [3]. Weiterhin ist aus unserer Sicht auch eine kritische Auseinandersetzung mit der operationalen Diagnostik wünschenswert [4]. ICD-10 und DSM-IV kommt das große Verdienst zu, in der psychiatrischen Diagnostik eine gemeinsame Sprachebene geschaffen zu haben. Die operationalen Diagnosemanuale sind jedoch in nosologischer Hinsicht keineswegs "atheoretisch", sondern beziehen sich wie beispielsweise im Falle der Anpassungsstörungen auf historische Konzepte [5].

Für ICD-11 und DSM-V werden derzeit zunehmend syndromale bzw. dimensionale Ansätze favorisiert [6], welche die von F. Böhme angesprochene nosologische Differenzierung noch weiter als bisher außer Acht lassen würde. So würde man Patienten mit Reaktionen auf psychosoziale Belastungsfaktoren je nach vorherrschender Symptomatik beispielsweise der Depression oder den Angststörungen zuordnen und entsprechend behandeln. Im Hinblick auf die praktische Arbeit denken wir jedoch, dass man auch in Zukunft nicht auf die traditionelle kategoriale Diagnostik verzichten sollte, mit der im Regelfall auch eine Aussage zu Schweregrad und Prognose der Störung verbunden ist [7].

Zur Frage, wie wir mit Menschen umgehen, die sich aufgrund von psychosozialen Problemen an uns wenden, bemerkt F. Böhme richtig, dass man eine "Psychiatrisierung" dieser Klienten vermeiden sollte. Andererseits sollte jedoch der Psychiater bei Patienten, die sich aufgrund von psychosozialen Belastungen vorstellen, eine organische Erkrankung oder eine "spezifischere" psychische Störung wie beispielsweise eine Schizophrenie, eine bipolar affektive Störung, eine Suchterkrankung oder auch eine Persönlichkeitsstörung ausschließen bzw. entsprechend behandeln. Aufgabe des Psychiaters könnte aber auch sein, nichtärztliche Hilfsangebote zu vermitteln, etwa im Sinne eines Lotsen durch die in Deutschland diversifizierte psychosoziale Versorgungslandschaft.

3. Begrenzung von medizinische Leistungen

Auch mit der Frage nach den Grenzen von Ansprüchen an therapeutische Versorgung und soziale Unterstützungen spricht F. Böhme ein wichtiges Thema an. Auch wir sehen eine Diskrepanz zwischen Erwartungen an das Fach Psychiatrie und Psychotherapie und der Aufgabe psychiatrischer Dienste. Tatsächlich muss immer wieder die Frage beantwortet werden, welche Leistungen Teil angemessener und evidenzbasierter Krankenversicherung sind. Diese Frage ist im Übrigen wesentlich mit der Definition des Krankheitsbegriffes verbunden [3]. Unserer Ansicht nach sollte sich jeder einzelne Arzt, sollten sich aber auch die ärztlichen Berufsverbände und medizinischen Fachgesellschaften mit gesundheitsökonomischen und ethischen Fragen befassen.

Die moderne Psychiatrie betont zu Recht die Patientenautonomie. Dies bedeutet nicht nur, dass Patienten und deren Angehörigen Mitspracherechte eingeräumt werden, sondern umgekehrt, dass auch sie Verantwortung übernehmen. Auch bei Anpassungsstörungen kommt den Patienten eine hohe Eigenverantwortung im Therapieprozess zu, was in manchen Situationen die von F. Böhme angesprochene "eigenständige Lebensbewältigung in psychosozialen Schwierigkeiten" einschließen dürfte.

Markus Jäger, Karel Frasch, Thomas Becker

Email: Markus.Jaeger@bkh-guenzburg.de

Literatur

  • 01 Riedel-Heller S . Bramsfeld A . Roick C . et al . Der Ruf nach mehr Versorgungsforschung.  Psychiat Prax. 2008;  35 157-159
  • 02 Greenberg WM . Rosenfeld DN . Ortega EA . Adjustment disorder as an admission diagnosis.  Am J Psychiatry. 1995;  152 459-461
  • 03 Helmchen H . Krankheitsbegriff und Anspruch auf medizinische Leistungen.  Nervenarzt. 2003;  74 395-397
  • 04 Jäger M . Frasch K . Becker T . Die Krise der operationalen Diagnostik in der Psychiatrie.  Nervenarzt. 2008;  79 288-294
  • 05 Jäger M . Strauß A . Frasch K . et al . Konzeptuelle Grundlagen der operationalen Diagnostik in der Psychiatrie.  Fortschr Neurol Psychiat. 2007;  75 478-483
  • 06 Allardyce J . Gaebel W . Zielaseck J . et al . Deconstructing Psychosis conference February 2006: the validity of schizophrenia and alternative approaches to the classification of psychosis.  Schizophr Bull. 2007;  33 863-867
  • 07 Jäger M . Frasch K . Becker T . Neue Wege in der psychiatrischen Diagnostik?.  Fortschr Neurol Psychiat. 2008;  76 186-293
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