Psychiatr Prax 2009; 36(3): 150
DOI: 10.1055/s-0029-1220818
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Erfolgsmythos Psychopharmaka

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Publication Date:
06 April 2009 (online)

 

Der Verfasser des Buches aus dem Psychiatrie-Verlag mit diesem provozierenden Titel ist Stefan Weinmann, über den auf der letzten Seite zu lesen ist, dass er die unterschiedlichen Interessen und Perspektiven der psychiatrischen Versorgung während der klinischen Arbeit, in wissenschaftlichen Projekten, in der Entwicklung von Leitlinien und in Entscheidungsgremien von Krankenkassen und Ärzten kennengelernt habe. Das ist richtig, aber etwas untertrieben. Er hat an 3 verschiedenen psychiatrischen Universitätskliniken, am Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) gearbeitet und war in der Leit„linienprojektgruppe für die Erstellung der S3-Leitlinie Schizophrenie maßgeblich verantwortlich für deren Erarbeitung. Insofern darf man gespannt sein, was da kommt, wenn er ein Buch mit dem Untertitel "Warum wir Medikamente in der Psychiatrie neu bewerten müssen" herausbringt. Die Erwartung wird nicht enttäuscht. Es handelt sich um die bisher sicher umfassendste wissenschaftliche Kritik an der Rolle der Psychopharmaka in der Psychiatrie, ausnahmslos lege artis begründet auf der Basis vorliegender wissenschaftlicher Daten. Er beleuchtet und hinterfragt das Selbstverständnis als medizinische Disziplin, welches die Psychiatrie maßgeblich aus der Verordnung von Medikamenten bezieht, die Validität der derzeitigen Diagnosesysteme, die Rolle von Medikamenten bei der Entwicklung psychiatrischer Diagnoseverfahren und Messinstrumente, die Auswahl von Forschungsthemen und vieles andere mehr. Dabei kommen viele Argumente zur Sprache, die in den letzten 2 Jahren verstärkt laut werden wie z.B. die Hinweise für eine vergleichweise geringe Wirksamkeit der Antidepressiva und bisher unterschätzte Nebenwirkungen neuerer Neuroleptika. Der eine oder andere Aspekt könnte der langen Liste kritischer Überlegungen sogar noch hinzugefügt werden, z.B. die Konzeption des "Rezidivs", das in die Psychiatrie gleichzeitig mit der Forderung nach Rezidivprophylaxe Einzug hielt oder die Tatsache, dass alle zur Messung der Compliance verwendeten Skalen bisher ausschließlich die Medikamenten-Compliance berücksichtigen, unter Ignorierung aller sonstiger Leitlinienempfehlungen.

Natürlich ist Weinmann kein Anti-Psychiater und es liegt ihm fern, Psychopharmaka vollständig zu diskreditieren oder zu verteufeln. In erster Linie kritisiert er den übermäßigen Stellenwert, den Medikamente und biologische Sichtweisen im psychiatrischen Weltbild eingenommen haben. Er stellt dabei einem biologischen Krankheitsmodell ein psycho- bzw. soziogenetisches gegenüber. Diese polarisierende Sichtweise wäre nicht einmal notwendig gewesen, um zu den gleichen Schlussfolgerungen zu gelangen. Auch auf der Basis eines Gehirn-Umwelt-Interaktionsmodells, das dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis entspricht und z.B. die Rolle von Umwelteinflüssen über eine Sensitivierung der monaminergen Transmittersysteme integrieren kann, wird man zu der Schlussfolgerung kommen, dass ein rein pharmakologischer Ansatz immer verkürzt sein muss und seine beste Wirksamkeit in der Akutbehandlung entfaltet. Das Buch ist nicht nur eine Streitschrift und eine theoretische Bestandsaufnahme, sondern es wirft auch implizit zahlreiche praktische Fragen auf. Eine der wichtigen ist die, welche Botschaften Patienten in psychoedukativen Gruppen eigentlich sinnvollerweise vermittelt werden sollen. Die Recovery-Bewegung und die nüchterne Betrachtung der Studienlage zu den verfügbaren Medikamenten regen diesbezüglich zum Nachdenken an. Den Mitarbeitern meiner klinischen Abteilung, die bereits sehr reichlich Literatur über Psychopharmaka genossen haben, lasse ich dieses Buch jedenfalls als wichtige Ergänzung und Pflichtlektüre zukommen.

Tilman Steinert, Weissenau

Weinmann S. Erfolgsmythos Psychopharmaka. Warum wir die Medikamenten- behandlung in der Psychiatrie neu bewerten müssen. Bonn: Psychiatrie-Verlag, 2008; 263 S, 29,95 €. ISBN 978-3-88414-455-8

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