Fragestellung: Die Theorie der visuellen Aufmerksamkeit (TVA, Bundesen 1990) gilt als mathematische
Formalisierung des etablierten „Biased Competition Models“ von Desimone & Duncan (1995)
und erlaubt es vier voneinander unabhängige Aufmerksamkeitsparameter (Verarbeitungsgeschwindigkeit,
Kapazität, selektive Kontrolle und räumliche Gewichtung) in Einzelprobanden zu untersuchen.
Mit der nicht geschwindigkeitsgebundenen, verbalen Antwort ist der Ansatz ideal geeignet
um Schlaganfallpatienten zu untersuchen. Die TVA wurde hier verwendet um zu testen,
ob eine Patientin mit fokalem ischämischen Infarkt in der Region des mediodorsalen
Nucleus des Thalamus Defizite in einzelnen Aufmerksamkeitsparametern aufweist. Die
Patientin berichtete eine reduzierte Wahrnehmung im rechten visuellen Feld, die in
klinischen Neglect- und Extinktionstests nicht diagnostizierbar war.
Methoden: Mithilfe eines Ganz- und Teilberichtsparadigma (Finke et al. 2005) wurden die vier
Parameter der TVA untersucht. Zusätzlich wurde ein neuro-opthalmologisches Screening
(inklusive Perimetrie) durchgeführt.
Ergebnisse: Die Parameter Verarbeitungsgeschwindigkeit (Anzahl an Objekten/s), Verarbeitungskapazität
(Anzahl an Objekten), selektive Kontrolle und sensorische Effizienz lagen im Normalbereich
(Finke et al. 2005). Die räumliche Gewichtung wies eine leichte Verlagerung nach rechts
auf. Die Patientin zeigte nur dann ein Defizit im contraläsionalen rechten Halbfeld
wenn simultan im ipsiläsionalen Halbfeld ein weiterer Zielreiz dargeboten wurde. Einzelreize
und Zielreize mit einem Distraktor im contraläsionalen oder ipsiläsionalen Halbfeld
wurden normal erkannt.
Schlussfolgerungen: Extinktion beschreibt ein Defizit der räumlichen Gewichtung (Präferenz von ipsläsionalen
Reizen) während die sensorische Effizienz und selektive Kontrolle in beiden Halbfeldern
unbeeinträchtigt ist. Die Befunde der Patientin entsprechen diesem Muster und bestätigen
ihren subjektiven Wahrnehmungseindruck. Darüber hinaus lassen sie vermuten, dass der
mediorsale Nucleus in die räumliche Gewichtung von Aufmerksamkeit involviert ist.
Folgeuntersuchungen an weiteren Patienten mit fokalen Läsionen im Kerngebiet des rechten
oder linken mediodorsalen Nucleus sollen überprüfen ob die Halbfeldspezifizität in
beiden Kerngebieten auftritt. Die Studie demonstriert darüber hinaus die Spezifizität
und Sensitivität der TVA in der Diagnostik von Aufmerksamkeitsdefiziten nach einem
Schlaganfall.