Gesundheitswesen 2009; 71(7): 414-422
DOI: 10.1055/s-0029-1202330
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Hausarztzentrierte Versorgung in Deutschland. Der Hausarzt als Lotse?

General Practitioner-Centred Health-Care in Germany. The General Practitioner as GatekeeperA. Höhne 1 , K. Jedlitschka 2 , D. Hobler 3 , M. Landenberger 4
  • 1Institut für Medizin-Soziologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
  • 2Techniker Krankenkasse, Stationäre Versorgung
  • 3Institut für Soziologie, Georg-August-Universität Göttingen
  • 4Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Further Information

Publication History

Publication Date:
11 May 2009 (online)

Zusammenfassung

In vielen Ländern existiert seit mehreren Jahren ein Gatekeeper-System im Gesundheitswesen. Dabei kommt dem zuständigen Allgemeinarzt, der über die weitere Inanspruchnahme fachärztlicher oder stationärer Versorgung entscheidet, eine maßgebliche Zuweisungsfunktion im ambulanten Sektor zu. Die Gesundheitsreform 2004 hat die Position des Hausarztes auch in der gesundheitlichen Versorgung in Deutschland gestärkt. Die Einführung von sogenannten Hausarztprogrammen stellt eine neue Versorgungsform im Gesundheitswesen dar. Dem Hausarzt wird dabei eine Lotsenfunktion (gatekeeping) zugeschrieben. Ziel der hausarztzentrierten Versorgung ist es, kostenintensive Doppeluntersuchungen sowie medizinisch nicht notwendige Facharztbesuche zu vermeiden und die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure und Einrichtungen des Gesundheitswesens zu optimieren. Im Rahmen einer postalischen Befragung wurden Versicherte einer Gesetzlichen Krankenkasse zu dieser Thematik befragt: 962 Teilnehmer an einem Hausarztprogramm und 644 Nichtteilnehmer (Kontrollgruppe). Im Zentrum der Befragung standen die Erfahrungen der Versicherten mit dem Hausarztprogramm, der Inanspruchnahme ambulanter ärztlicher Leistungen und die Zufriedenheit mit der ambulanten Versorgung. Die Studienergebnisse zeigen, dass die Lotsenfunktion des Hausarztes von den meisten Versicherten akzeptiert wird, aber weiterhin Optimierungsbedarf in der täglichen Umsetzung der hausarztzentrierten Versorgung besteht.

Abstract

In many countries, the gatekeeper system in health care has been existent for several years. The health reform 2004 has strengthened the position of the general practitioner (GP) in German health care. The introduction of the so-called general practitioner programmes (Hausarztprogramme) represents a new form of health care. The GP is credited with a gate-keeping function. The aim of GP-centred care is to avoid expensive double check-ups and specialist consultations which are not necessary from a medical point of view. Optimisation and co-operation of people and institutions within the health care system are also intended. The GP programme offers advantages for both parties. The position of the GPs is being strengthened. For example, the insured have fewer expenses, shorter waiting times at the GP practice and benefit of the co-ordination of more complex treatments by the GP. Regarding this topic, a postal survey with members of a compulsory health insurance fund interviewed 962 participants of a GP programme and 644 non-participants (control group). The study's results show that the GP's gatekeeper function is accepted by most of the insured, but that there is still a need to optimise the daily implementation of GP-centred care.

Literatur

  • 1 Redaktionsbüro Gesundheit . Regionale Hausarztmodelle in Deutschland – Recherche des Redaktionsbüros Gesundheit bei den gesetzlichen Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen (Stand: August 2007). 2007; 
  • 2 Deppe UH. Zur sozialen Anatomie des Gesundheitssystems. Neoliberalismus und Gesundheitspolitik in Deutschland. Frankfurt/Main: Verlag für Akademische Schriften 2005
  • 3 Erlinghagen M, Pihl C. Der Hausarzt als Lotse im System der ambulanten Gesundheitsversorgung? Empirische Analyse zum Einfluss der individuellen Hausarztbindung auf die Zahl der Arztbesuche.  Zeitschrift für Sozialreform. 2005;  51 369-393
  • 4 Himmel W, Dieterich A, Kochen MM. Will german patients accept their family physician as a gatekeeper?.  Journal of General Internal Medicine. 2000;  15 496-502
  • 5 Streich W. Der Hausarzt als Primärversorger und Lotse im Versorgungssystem – Stand der Praxis und Entwicklungschancen. In: Böcken J, Braun B, Schnee M, (eds) Gesundheitsmonitor 2003. Die ambulante Versorgung aus Sicht von Bevölkerung und Ärzteschaft. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung 2003: 26-40
  • 6 Prognos AG. Wissenschaftliche Begleitung des Qualitäts- und Kooperationsmodells Rhein-Neckar (Hausarztmodell). Prognos AG Basel 2005
  • 7 SGB . Sozialgesetzbuch . München: Deutscher Taschenbuchverlag (32.Auflage) 2005
  • 8 Specke H. Der Gesundheitsmarkt in Deutschland. Daten – Fakten – Akteure. Bern: Verlag Hans Huber 2005
  • 9 BMGS .Das neue Hausarztmodell der KV-Hessen mit acht Ersatzkassen sichert hohe Qualität in der medizinischen Versorgung. Berlin 2004
  • 10 Hess R. Kasseler Kommentar. Sozialversicherungsrecht § 73b SGB V. München: Verlag C. H. Beck 2005
  • 11 IKK gesund plus .Vertrag über die Umsetzung der hausarztzentrierten Versorgung nach § 73b SGB V in Verbindung mit §§ 140 a ff. SGB V („Hausarztvertrag”). Magdeburg 2004
  • 12 Maschewsky-Schneider U. Frauen sind anders krank. Zur gesundheitlichen Lage der Frauen in Deutschland. Weinheim: Juventa 1997
  • 13 Grabka MM, Leinert J, Wagner GG. Die Bürgerprämie als Finanzierungsmodell für eine soziale Gesundheitssicherung.  Soziale Sicherheit. 2006;  55 82-86
  • 14 Thode N, Bergmann E, Kamtsiuris P. et al . Einflussfaktoren auf die ambulante Inanspruchnahme in Deutschland.  Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz. 2005;  48 296-306

7 Alle Autorinnen und Autoren waren während der Projektlaufzeit oder sind aktuell MitarbeiterInnen an der MLU Halle-Wittenberg.

1 Die IKK gesund plus hat zusammen mit der AOK Sachsen-Anhalt in Sachsen-Anhalt den ersten landesweiten Vertrag zur hausarztzentrierten Versorgung in Deutschland geschlossen. Dieser Vertrag trat am 1. Juli 2004 in Kraft und erfolgt in Kooperation mit der Hausärztlichen Vertragsgemeinschaft e.G. sowie der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen-Anhalt (KVSA).

2 Der Hausarztvertrag der BARMER Ersatzkasse beruht auf § 140a–d SGB V und wurde von der Kasse als „integrierte Versorgung” deklariert, was vom Bundessozialgericht für rechtswidrig erklärt wurde und darf den Versicherten auf dieser gesetzlichen Grundlage daher nicht mehr angeboten werden (Az. B 6 KA 27/07 R).

3 Die Beschränkung auf die Ergebnisse der ersten Befragungswelle begründet sich darin, dass in dieser Befragung deutlich höhere Teilnahmezahlen realisiert werden konnten und bereits alle wichtigen Aspekte des Hausarztprogramms thematisiert wurden.

4 In der zweiten Befragungswelle wurden die Programmteilnehmer zusätzlich gefragt, welche Aspekte im Falle einer notwendigen Wahl eines neuen Hausarztes (z. B. in Folge von Umzug oder Schließung der bisherigen Hausarztpraxis) für sie eine Rolle spielen würden. Für drei Viertel (72%) ist demnach von sehr hoher Bedeutung, dass der zu wählende Hausarzt am Hausarztprogramm teilnimmt. Die Teilnahme am Hausarztprogramm stellt damit den bedeutendsten Aspekt bei der Wahl eines neuen Hausarztes dar und spricht für eine starke Bindung der Versicherten an das Programm.

5 Alle Teilnehmer wurden gefragt, wie wichtig ihnen vier ausgewählte Gründe für ihre Teilnahme an der hausarztzentrierten Versorgung waren (1=völlig unwichtig bis 4=sehr wichtig). Die Frauen wurden zudem gefragt, wie wichtig die mit der Programmteilnahme verbundene Befreiung von der Überweisungspflicht für Gynäkologen für die Entscheidung zur Teilnahme war.

6 Etwa 16% machten bei diesem Grund keine Angaben, was darauf hindeutet, dass dieser Aspekt offensichtlich keine besondere Wertigkeit für die Versicherten hat. Bei dem Grund ,Ersparnis der Praxisgebühr‘ machten nur 5% keine Angaben, was die Wichtigkeit dieses Anreizes für die Versicherten zusätzlich untermauert.

Korrespondenzadresse

Dr. A. Höhne

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Zentrum für Psychosoziale Medizin

Institut für Medizin-Soziologie

Martinistraße 52

20246 Hamburg

Email: a.hoehne@uke.uni-hamburg.de

    >