Notfallmedizin up2date 2009; 4(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-0029-1185443
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Vergessenes und Verdrängtes

Volker Dörges, Gilbert Heller
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Publication Date:
09 March 2009 (online)

Die vorliegende Ausgabe der Notfallmedizin up2date beschäftigt sich mit Themenbereichen der Rettungsmedizin, die uns im täglichen Routineeinsatz nur eher selten begegnen. Umso wichtiger ist es, sich regelhaft mit den sogenannten Randbereichen der Notfallmedizin zu beschäftigen, um das erforderliche Wissen im Bedarfsfall abrufen zu können.

Es stellt sich im Vorfeld insbesondere die Frage, was, neben der fehlenden numerischen Häufigkeit einer Indikation, einen Einsatz zu einem Randbereich „unseres“ Gebietes der Medizin werden lässt: Ist dies nicht vor allem in hohem Maß unsere allzu menschliche Eigenheit, Unbequemes zu verdrängen?

Wer erinnert sich zum Beispiel noch an die vor einigen Jahren grassierende Angst vor „Anthrax“- oder B-Waffen-Anschlägen mit terroristischem Hintergrund und die damals eingeleiteten umfassenden Sicherheitsmaßnahmen? Oder, noch einige Jahre zuvor, an die an Hysterie grenzende Aufregung über die weltweite Verbreitung von Infektionskrankheiten, die über mehrere Jahre insbesondere die „Thriller“-produzierende Filmindustrie glücklich gemacht hat? Und wer möchte sich ständig an die Bedrohung durch Attentate und deren Folgen erinnert wissen, wo der Ursprung dieser Taten doch scheinbar in der Ferne liegt?!

Weit gefehlt: Die Infektionskrankheiten stellen heutzutage nach wie vor auch ohne jedweden terroristischen Hintergrund ein immenses Gefährdungspotenzial dar, das uns deutlich näher ist, als uns lieb sein kann: Nur wenige Flugstunden von unserer Heimat entfernt liegen die Haupterregerreservoire. Und die Zahl derer, die sich, aus welchen Gründen auch immer, im globalen Transit bewegen, nimmt stetig zu. In dieser Ausgabe der Notfallmedizin up2date finden Sie eine fundierte Übersicht von G. Burchard, die die Risiken der Infektionskrankheiten, deren Übertragungswege und die organisatorischen und therapeutischen Möglichkeiten und Notwendigkeiten für den Notarzt anschaulich aufzeigt.

Anknüpfend an die steigende Zahl der Flugreisenden und die damit verbundenen logistischen Herausforderungen an einen internationalen Großflughafen erhalten wir in dem Beitrag von W. Gaber einen Überblick über den medizinischen Dienst am Frankfurter Flughafen, der mit nahezu 70 000 Beschäftigten und annähernd 60 Mio. Passagieren/Jahr zu den größten und leistungsfähigsten Flughäfen weitweit zählt und eine eigene in sich geschlossene Stadt darstellt. Dementsprechend geht das immense Aufgabenspektrum weit über den arbeitsmedizinischen Dienst und gelegentliche ambulante Notfallversorgungen hinaus. Es reicht rund um die Uhr von einer stark frequentierten Notfallambulanz über einen je nach Einsatzindikation auch arztgestützten Rettungsdienst und Krankentransport bis hin zur kompetenten Primärversorgung und Isolierung von Patienten mit importierten, hoch infektiösen Erkrankungen und zur Prävention und Bewältigung von Großschadenslagen jedweder Ursache.

Ebenfalls mit flugtechnischen Besonderheiten beschäftigen sich S. Schäfer et al., die uns einen Einblick in die Behandlungs- und vor allem die Beförderungsstrategie der Bundeswehr durch Medevac-Flüge geben. Hier werden plastisch die Möglichkeiten und Grenzen der Versorgung während des Medevac-Lufttransports, sowie die Indikationen für diese Repatriierungsflüge gezeigt, auf die nicht nur die Bundeswehr, sondern ebenfalls andere NATO-Einheiten zurückgreifen, und die im Bedarfsfall auch bei zivilen Großschadenslagen eingesetzt werden können. Die Elbeflut im August 2002 mit der zwischenzeitlichen Evakuierung zahlreicher Patienten, darunter auch etliche Schwerstkranke von Intensivstationen, aus Kliniken in Dresden in z. T. weit entfernte aufnahmebereite Krankenhäuser und der Tsunami in Indonesien und Thailand vom 26. Dezember 2004 mit etwa 230 000 Todesopfern und 110 000 Verletzten und der dementsprechend erforderlichen Repatriierung einer Vielzahl von Verletzten erzeugten bleibende Eindrücke von der Leistungsfähigkeit dieses Systems.

Zu den in diesem Artikel ebenfalls beschriebenen Patienten gehören, schlimm genug, auch Menschen mit Amputationsverletzungen. Die korrekte Behandlung dieser im zivilen Rettungsdienst verhältnismäßig seltenen Verletzungsform wird von E. Ziering, B. Ishaque und S. Ruchholtz anschaulich dargestellt: Für den Notarzt sind diese Informationen ausgesprochen wertvoll, da es doch hier insbesondere auf die präklinische Versorgung ankommt, um eine wenn immer möglich organerhaltende weitere adäquate klinische Behandlung bereits vor Ort einleiten zu können.

Abgerundet werden die Beiträge in diesem Heft durch eine im Rettungsdienst zugegebenermaßen eher seltene Einsatzindikation: den Schwindel. Daher ist der informative und sehr lesenswerte Übersichtsbeitrag zu Diagnose, Differenzialdiagnose und Therapie des Schwindels von C. Lang, F. Waldfahrer und H. Iro aus Nürnberg hervorragend geeignet, um sich eine eigene Untersuchungs- und Behandlungsstrategie zu entwickeln, um dem Patienten unnötige Wege und das falsche Zielkrankenhaus zu ersparen.

Durch die Lektüre dieser Ausgabe von Notfallmedizin up2date wird die Überzeugung weiter gefestigt, dass es sich überaus lohnt, sich auch mit Randbereichen unseres Fachgebiets zu beschäftigen: Denn nur das Wissen über die Unwägbarkeiten der täglichen Routine und der Blick über den Tellerrand hinaus lassen uns wachsam sein und im Bedarfsfall richtig reagieren.


Prof. Dr. med. Volker Dörges
Dr. med. Gilbert Heller, Kiel

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