Zeitschrift für Palliativmedizin 2008; 9(4): 197-198
DOI: 10.1055/s-0028-1121905
Editorial

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Symptomatologie oder Palliativmedizin?

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Publication Date:
19 December 2008 (online)

 

Prof. Dr. Raymond Volz, Köln

Auf dem Abschiedssymposium anlässlich der Emeritierung von Herrn Prof. Eberhard Klaschik Ende März 2008 in Bonn sprach zu seinen Ehren auch Dr. Robert Twycross. Er ist in Grossbritannien einer der Palliativmediziner der ersten Stunde, war anfangs verantwortlich für Forschungsprojekte bei Cicely Saunders und leitete dann jahrelang das vorbildliche Palliativzentrum und WHO-Zentrum in Oxford. Sehr eindrücklich warnte er uns als nachfolgende Generation davor, Palliativmedizin nicht zur "Symptomatologie" verkommen zu lassen. Diese Angst hatte auch bereits Michael Kearney 1992 in seinem Artikel "Palliative medicine - just another speciality?" anlässlich des 5-jährigen Bestehens von Palliativmedizin als eigener Fachrichtung in Großbritannien geäußert [1].

Was nun ist der Unterschied zwischen Palliativmedizin und Symptomatologie? Geht es uns in der Palliativmedizin nicht gerade um eine symptomorientierte Therapie? Müssen wir dort nicht gerade auch viel wissenschaftlicher werden, als wir es bisher sind? Was macht Palliativmedizin so besonders? Und wovor haben manche Hospizbewegte zu Recht Angst, dass es der Palliativmedizin in Zukunft verloren gehen könnte?

Eine Antwort hierzu findet sich in dem äußerst lesenswerten Buch von Fiona Randall und Robert S. Downie, "The Philosophy of Palliative Care: critique and reconstruction", welches 2006 erschien und 2007 bereits einen Buchpreis erhalten hat [2]. In diesem Werk kritisieren die Autoren viele Punkte der bestehenden WHO-Definition von Palliative Care (zu Recht!) und versuchen eine Neudefinition. Insbesondere verweisen sie - und dies stellt eine wesentliche Antwort auf unsere oben genannte Frage dar - auf das antike Griechenland:

Dort bestanden 2 medizinische Traditionen parallel nebeneinander. Einerseits war dies die Schule von Hippokrates. Sie versuchte in jedem Kranken die allgemeinen Prinzipien, die zugrunde liegende Krankheit, die Theorie der Entstehung herauszufinden. Sie stellt sozusagen eine Vorläuferin der modernen naturwissenschaftlich orientierten Medizin dar, welche sich an objektiven und quantifizierbaren Fakten orientiert.

Demgegenüber steht die Schule des Asklepios, dessen Zeichen ja die Schlange darstellt, die sich in vielen Symbolen der Ärzteschaft, z. B. im Symbol der Bundesärztekammer, wiederfindet. Die Schlange steht als Symbol für einerseits einen aufmerksamen Blick, der Patienten in seiner Individualität betrachtet und analysiert, der für den Patienten da ist, der hinhört, was vom Patienten herkommt. Andererseits steht die Schlange mit ihrer regelmäßigen Häutung für eine von innen kommende Veränderung und somit für die Ansicht, dass wahre "Heilung" nur vom Patienten selbst herkommen kann, von innen her, und nicht von uns von außen gegeben werden kann. Die Schule des Asklepios steht also für die Individualität, das Subjektive, das Emotionale und ist verantwortlich dafür, einen Rahmen für von innen kommende Heilung, Heil-Werdung zu ermöglichen. Forschungsmäßig sind qualitative Methoden in diesem Bereich der Medizin anzusiedeln.

Beide Formen der Medizin, die hippokratische und die asklepische, standen in Griechenland parallel nebeneinander. Konnte ein Patient durch hippokratische Medizin nicht geheilt werden, so begab er sich in Schulen der asklepischen Medizin.

Und hier genau ergeben sich Parallelen zu unserer Diskussion. Es ist nun also die Kunst der Palliativmedizin, die hippokratischen Elemente und die asklepischen Elemente miteinander zum Wohle der Patienten zu vereinbaren. Würden ausschließlich die hippokratischen Anteile realisiert, so handelt es sich um Symptomatologie. Würden jedoch nur die asklepischen Anteile betrachtet, so fehlte darin die Wissenschaftlichkeit, welche mit sich bringt, Palliativmedizin als eine Methode, welche auch ihre Grenzen hat, zu betrachten. Ohne diese wäre sie im Konzert der anderen akademischen Fachbereiche nicht überlebensfähig.

Aufgrund der extremen Lebenssituation der von uns betreuten Patienten und ihrer Angehörigen gibt es wahrscheinlich keinen anderen Bereich in der Medizin, in dem es so essenziell ist, die Balance zwischen hippokratischen und asklepischen Anteilen zu finden, zu halten und weiterzuentwickeln. Würde Palliativmedizin innerhalb starker anderer Fachrichtungen der Medizin bleiben, welche ihr Selbstverständnis durch die molekular orientierte Weiterentwicklung der Medizin holen, so stände zu befürchten, dass aus der Palliativmedizin über die Jahre tatsächlich eine Symptomatologie würde. Damit dieses nicht geschieht, ist es fast zwingend - abgesehen von all den anderen Argumenten, die dafür sprechen -, dass Palliativmedizin akademisch ein eigenständiges Fachgebiet ist. Nur dann ist zu gewährleisten, dass in Versorgung, Lehre und Forschung die klinische Kunst der Balance zwischen diesen beiden Formen der Medizin weiterentwickelt werden kann.

Literatur

  • 01 Kearney M . Palliative medicine - just another speciality?.  Palliative Medicine. 192;  6 39-46
  • 02 Randall F . Downie RS . The Philosophy of Palliative Care: critique and reconstruction. Oxford: Oxford University Press; 2006. 
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