PiD - Psychotherapie im Dialog 2009; 10(1): 63-66
DOI: 10.1055/s-0028-1119656
Interview

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Psychotherapie zur Auslotung des Machbaren

Das InterviewMichael  Szukaj im Gespräch mit Wolfgang  Senf
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Publication Date:
13 March 2009 (online)

Herr Szukaj, wie lange arbeiten Sie mit transsexuellen Menschen und wie sind Sie dazu gekommen?

Michael Szukaj: Während meiner Assistenzarzttätigkeit an der Psychiatrischen Universitätsklinik Münster ermutigte mich 1987 ein befreundeter Psychologe, mit ihm eine Ambulanz für Transsexuelle aufzubauen. Die damalige Situation war so, dass es nur wenige Ambulanzen für Betroffene in Deutschland gab. Die nächsten in der Umgebung von Münster waren in Hannover, Frankfurt und Hamburg. In unserer Klinik fanden sich ab und zu Patienten zur Begutachtung im Rahmen des damals wenige Jahre alten Transsexuellengesetzes ein. Den Begegnungen haftete etwas Exotisch-Bedrohliches an. Den Beschreibungen der Betroffenen in der spärlichen damaligen sexualmedizinischen Literatur waren gestörte stereotype Persönlichkeitsprofile auf Borderline-Niveau zu entnehmen. Die Voreingenommenheit wurde dadurch nicht kleiner. Dennoch kam es mit konzeptioneller Unterstützung von Friedemann Pfäfflin aus Hamburg zu ersten Behandlungen, denen sich später auch eine Gutachtertätigkeit im Rahmen des TSG anschloss. Auch nach meiner Niederlassung 1994 übe ich diese Arbeit schwerpunktmäßig weiter aus, mittlerweile also seit über 20 Jahren.

Wenn ich da einmal so fragen darf: Wie viele transsexuelle Menschen haben Sie inzwischen gesehen?

Ich habe etwa 700 Betroffene gesehen, von denen ich über 400 längerfristig begleitet habe. Aktuell sind es 50 fortlaufende Behandlungsfälle.

Und wenn es möglich ist, könnten Sie auf den Punkt bringen, was aus Ihrer Sicht und Erfahrung „transsexuell” ist? Gibt es da etwas Typisches?

Das, was wir „transsexuell” nennen, ist im Wesentlichen durch die unkorrigierbare Gewissheit der Betroffenen gekennzeichnet, dass das biologische Geschlecht nicht zum empfundenen Geschlecht passt, sie sich also im falschen Körper fühlen. Etwas Typisches ist bei allen individuellen Unterschieden für die Mehrzahl durchaus feststellbar: ein Beginn der genannten Empfindung in der frühen Kindheit, Betroffene sagen dazu oft „solange ich denken kann”, mit lebenslang bestehender Konsistenz. Dann die Ablehnung des Aussehens und des Verhaltens des eigenen biologischen Geschlechts und die Übernahme der Attribute des Gegengeschlechts. Dann die erste krisenhafte Zuspitzung im Rahmen der als aversiv erlebten pubertären Veränderungen mit verbleibender Ablehnung der biologischen Geschlechtsmerkmale. Bei sogenannten Mann-Frau-Transsexuellen, also biologisch männlichen Betroffenen, kommt es zudem häufig bereits präpubertär zu heimlichem Tragen weiblicher Kleidung und Unterwäsche, mitunter mit vorübergehenden Phasen sexueller Erregung und Stimulation. Insgesamt intensiviert sich der körperliche Veränderungswunsch im Verlauf, und bei nahezu 90 % der Betroffenen ist er bereits zu Behandlungsbeginn Thema.

Daneben gibt es, nicht weniger typisch, die sogenannten sekundären Verläufe, von denen überwiegend Mann-Frau-Transsexuelle betroffen sind. Die spezifischen Erinnerungen an die Kindheit sind diffus, die pubertären Veränderungen werden indifferent erlebt und Sexualität wird eine Zeitlang mitunter lustvoll praktiziert. Damit verbunden ist häufig die Hoffnung auf eine tragfähige psychosoziale Kompromissbildung, in deren Rahmen es zu Heirat und Elternschaft kommen kann; nach Jahren wird dann doch, häufig mit weitreichenden, oft tragischen Konsequenzen für Familie, Arbeit und Sozialstatus, dem inneren Druck nachgegeben und der Weg der Veränderung beschritten. Die damit einhergehenden Konflikte unterscheiden sich daher zum Teil sehr von den sogenannten primären Verläufen. Und natürlich sind all diese Feststellungen nur grobe Annäherungen, denn jeder Verlauf ist anders.

Gibt es denn eine Möglichkeit für Betroffene, diesem inneren Druck irgendwie zu entkommen? Oder wie ist das zu verstehen? Und warum sollen sie dann in eine Psychotherapie gehen?

Entkommen können die Betroffenen diesem Druck nicht. Es gibt wohl vereinzelt Phasen verringerten Druckes, zum Beispiel bei manchen Mann-Frau-Transsexuellen, die versuchen, durch Heirat und Familiengründung mit Beseitigung aller weiblichen Kleidung davon frei zu werden. Die Hoffnung erfüllt sich allerdings nicht. Früher oder später ist der übermächtige Druck wieder da, doch dem inneren Empfinden gemäß leben zu müssen. Auch Kompromissbildungen, bei denen aus beruflichen oder familiären Gründen Angleichungswünsche bis etwa zur Rente oder der Volljährigkeit der Kinder aufgeschoben werden, sind weiter von diesem inneren Leidensdruck gekennzeichnet und schwer aushaltbar. Nachhaltige Linderung erfährt das nur dadurch, dass die Betroffenen ihrem Empfinden so weit wie möglich Ausdruck verschaffen, also in Aussehen, körperlicher und rechtlicher Angleichung. Auch die geschlechtsangleichende Operation beseitigt ihn letztlich nicht vollständig, sie nähert im günstigsten Falle lediglich sehr weit an das Erhoffte an.

Das hängt mit dem Wesen dieses inneren Druckes zusammen: Er ist eben keine im üblichen psychiatrischen oder psychotherapeutischen Sinne behandelbare Symptombildung, die es zu beseitigen gilt. Es ist eben keine aus krankhafter Verkennung der Realitäten entstandene irrige Annahme. In realistischer Wahrnehmung des eigenen Körpers ist und bleibt die aus dem Inneren der Persönlichkeit stammende Überzeugung: Hier passt etwas nicht zusammen. Dieses nicht passende Geschlechtsidentitätsempfinden, das sich wie ein Fremdkörper, wie falsch gepolt in den Rest der Persönlichkeit einfügt, erzeugt die innere Spannung. Das übt natürlich in seiner Unerklärbarkeit einen intensiven seelischen Druck aus und führt u. a. zu Schuld- und Versagensgefühlen, zu Scham, Angst, Aggression, Ohnmacht und Verzweiflung. Hieraus resultiert nach meinem Verständnis der überwiegende Teil psychiatrischer Symptombildungen bei einem Transsexualismus, also als Folge der ungeheuren Belastungen und nicht als deren Ursprung. Und hier setzt in erster Linie die Psychotherapie an. Es geht darum die Betroffenen in ihrer Not wahrzunehmen, als Opfer einer unfassbaren Anomalie, und ihnen nach einem ausreichend langen kritischen diagnostischen Prozess zu einer Linderung dieses inneren Leidensdruckes zu verhelfen, so gut es geht und so gut sie es vertragen.

Dann geht es also in der Psychotherapie nicht darum, diesen inneren Wunsch zu beseitigen? Warum lässt sich das nicht wegtherapieren? Und um was genau geht es dann in einer Psychotherapie? Braucht man denn eine Psychotherapie?

Ich halte den primären Grund für dieses Erleben für einen biologischen. Das den Betroffenen zum Teil bis heute anhaftende Stigma ist das der Persönlichkeitsstörung, auf der alles beruhen soll. Die sich daraus ergebenden Implikationen sind weitreichend, auch für die Gegenübertragung. Das ist ein grundsätzliches und tragisches Missverständnis. Der eine biologische Genese als möglich erachtende psychotherapeutische Zugang verändert die therapeutische Begegnung von Beginn an. Die Betroffenen sind des Druckes entledigt, sich rechtfertigen zu müssen. Die Gesprächsatmosphäre verändert sich mitunter in nur wenigen Augenblicken. In dieser großen Not gesehen zu werden und nicht als ein sich in unsere Fantasien einpflanzendes, genitalienverstümmelndes Monster, das stellt den entscheidenden Zugang dar. Ob das gelingt, bei aller gebotenen kritischen Zurückhaltung und Verteidigung eines angemessenen therapeutischen Rahmens, entscheidet nicht selten, ob Behandlung zustande kommt, mitunter ob die Betroffenen überhaupt weiterleben.

So wenig sich das biologische Geschlechtsidentitätsempfinden wegtherapieren lässt, so sehr bedarf es doch andererseits der Psychotherapie zur Auslotung des Machbaren: Wieweit kann ich als Betroffener eine Angleichung an das Empfundene erreichen? Wie viel der damit einhergehenden Belastungen und Frustrationen kann ich ertragen? Wie sehr kann ich perspektivisch „normal” leben? Wie kann ich mich im Verlauf an Gefühle wieder heranwagen, die vorübergehend auf der Strecke geblieben sind oder die ganz fremd scheinen? Man weiß heute, dass diese psychotherapeutische Begleitung, durchaus in unterschiedlichen Settings, entscheidend die Prognose beeinflusst. Die Auswirkungen dieses Erlebens und die damit einhergehenden Konflikte bewirken häufig zusätzlich Erkrankungen wie Depressivität, Angststörungen, Abhängigkeitserkrankungen etc., die auch der Psychotherapie, nicht selten auch einer vorübergehenden Medikation bedürfen. Bemerkenswert ist dabei die erhebliche Reduktion der begleitenden Symptome, häufig auch beispielsweise das vollständige Sistieren von Alkohol- und Drogenproblemen im Behandlungsverlauf. Die Betroffenen werden, entlastet von dem ursprünglichen Leidensdruck, schlichtweg gesünder.

Sehen Sie auch Kinder und Jugendliche?

Das früh beginnende Erleben macht nachvollziehbar, dass bereits Minderjährige selber oder durch ihre Eltern Behandlungen anstreben. Da die Kinder- und Jugendpsychiatrie sich bislang der Thematik wenig annahm, kommen die Betroffenen der Region seit einigen Jahren auch zu mir, eine Beobachtung, die andere Kollegen auch machen. Erstkontakte mit unter 14 Jahren sind keine Seltenheit. Das verantwortbare Alter für einen Behandlungsbeginn liegt aber angesichts der mit den pubertären Turbulenzen einhergehenden Besonderheiten bei 14 Jahren. Die große Verantwortung und die besonderen ethischen Aspekte verlangen eine besonders gründliche und ausreichend lange Diagnostik und Überprüfung der Lebbarkeit, ehe eine Hormonbehandlung frühestens mit etwa 16 Jahren beginnen kann. Die Miteinbeziehung der Eltern, häufig auch der Schulen, ist obligat. Auch geschlechtsangleichende operative Eingriffe sollten nicht vor dem 17. Lebensjahr erfolgen. Gut vorbereitet sind sie dann aber möglich und, wie die bisherigen guten Erfahrungen eigener Patienten zeigen, sinnvoll und sehr hilfreich. So bin ich fest überzeugt, dass auch die Behandlung Minderjähriger in standardisierter Form zukünftig zunehmen wird. Angesichts der zu vermutenden primären biologischen Genese des speziellen Erlebens eine logische und richtige Entwicklung.

Können Sie etwas über die Technik der Psychotherapie bei einer transsexuellen Entwicklung sagen? Ist das Verhaltenstherapie, Psychoanalyse oder um was handelt es sich?

Methodisch basiert die Behandlungstechnik am ehesten auf einem supportiv-stabilisierenden Vorgehen mit aktueller Konfliktbearbeitung im Sinne einer tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. Daneben spielen beratende Aspekte eine große Rolle, z. B. für somatische, rechtliche, krankenkassentechnische und arbeitsrelevante Fragestellungen. Die Miteinbeziehung von Bezugspersonen ist oft sehr wichtig, um, neben dem Erhalt fremdanamnestischer Daten, beispielsweise durch Entlastung elterlicher Schuldgefühle die familiäre Akzeptanz der Betroffenen zu verbessern und Zukunftssorgen zu mindern. Verhaltenstherapeutische Aspekte können gerade zu Beginn des Alltagstests zur Verbesserung der Selbstsicherheit hilfreich sein.

Der Behandlungsrahmen kann dabei sehr unterschiedlich sein und im Verlauf Veränderungen erfahren: In nicht wenigen Fällen reichen niederfrequente Kontakte in vier- bis sechswöchigen Abständen von zum Teil nur halbstündiger Dauer mit erhöhter Frequenz bei besonderen Belastungen. Andere brauchen die regelmäßige Richtlinienpsychotherapie wöchentlich. Diese kann, erfolgt sie bei einem psychologischen Psychotherapeuten, kombiniert werden mit niederfrequenten ergänzenden psychiatrischen Behandlungskontakten. Die Behandlung richtet sich nach dem Bedarf der Betroffenen und damit auch nach dem, was sie an therapeutischer Nähe ertragen können. Es geht also nicht darum, imaginäre Psychotherapieauflagen zu erfüllen und damit beispielsweise durch 50 oder 80 Sitzungen die Unumkehrbarkeit des Begehrens bewiesen zu haben. Ich halte Psychotherapie unter solchen Vorgaben genau genommen für undurchführbar.

Im Sinne der Betroffenen geht es stattdessen um eine gute Differenzialdiagnostik und insbesondere um die Überprüfung der Lebbarkeit des speziellen Erlebens. Hierfür empfiehlt sich bereits initial die Benennung eines Mindestzeitraumes vor Einleitung etwaiger erster somatischer Maßnahmen, um ständige Diskussionen darüber zu verhindern. Andererseits ist die womöglich vom Behandler auf den Tag genau verlangte Einhaltung eines einjährigen Alltagstests vor somatischen Indikationsstellungen ohne für den Betroffenen verständliche Begründung absurd und willkürlich. Gemeinsam sich um die Erkenntnis der Lebbarkeit und deren Ausgestaltung zu bemühen, ist die Aufgabe. Je größer die Erfahrung im Umgang mit den Betroffenen, desto größer auch die Möglichkeit bedarfsgerechter Behandlung. Nicht zuletzt auch wegen geringerer Ängste des Therapeuten vor Fehlern und vor der wiederum mit eigenen Fantasien einhergehenden größeren Nähe zu den Betroffenen. Dann entstehen die eigentlich erforderlichen therapeutischen Arbeitsbündnisse.

Das klingt ja doch sehr interessant. Warum findet sich bei vielen Psychotherapeuten eher eine Abhaltung, mit diesen Menschen zu arbeiten? Sind das persönliche Dinge? Darf ich Sie dabei fragen, wie das für Sie persönlich ist?

Die Grundproblematik im Umgang mit den Betroffenen liegt in den durch das spezielle Begehren ausgelösten bedrohlichen Fantasien im Therapeuten. Einem körperlich gesunden Menschen behilflich zu sein, sich letztlich die Genitalien entfernen zu lassen, verlangt nicht nur eine intensive Auseinandersetzung mit der speziellen Problematik, sondern konfrontiert uns insbesondere auch mit unseren eigenen Geschlechtsrollenvorstellungen, sexuellen Normen und tief sitzenden Ängsten weit über das Übliche hinaus. Das mag die Abneigung vieler Kollegen verständlich machen. Wir haben zu Beginn an der Psychiatrischen Universitätsklinik Münster aus diesem Grund wann immer möglich jeden Patienten zu zweit gesehen, um uns im Anschluss über unsere heftigen Gegenübertragungen auszutauschen. Unsere Ahnung, dass in der bewussten Auseinandersetzung mit dieser Gegenübertragung ein Fundament für den therapeutischen Zugang liegt, bestätigte sich fraglos.

Und dies öffnete den Blick für die Faszination und die oft sehr befriedigende Arbeit mit den Betroffenen. Es gibt keine vergleichbare Patientengruppe, bei der man in so vielen Fällen in derart kurzen Zeiträumen solch entlastende Effekte und Reduktion verschiedenster Symptombildungen erzielen kann. Das ist angesichts der sonst üblichen oft schwierigen psychotherapeutischen Alltagserfahrungen sehr bemerkenswert und wiegt bei Weitem die vielen assoziierten Probleme auf. Beispielsweise die Miteinbeziehung insbesondere der neuen Partner der Betroffenen lehrt uns darüber hinaus angesichts der nicht selten stabilen liebevollen Beziehungen gewisse gesellschaftliche Fixierungen auf sexuelle Stereotypien zu relativieren und toleranter und respektvoller mit diesen Ausdrucksformen tiefer Empfindungen umzugehen.

Was die Betroffenen oft schon in jungen Jahren zu ertragen haben, wie sie in aller Zerrissenheit ihren Weg suchen, nach allen Frustrationen trotzdem wieder aufstehen und sogar lernen, Verständnis für die Bedürftigkeiten ihrer „gesunden” Umgebung zu haben, ist neben vielem anderen in diesem Bereich etwas, was mich unvermindert berührt und meine therapeutische Haltung nach wie vor beeinflusst. Die vielen erfreulichen Verläufe tun ihr Übriges.

Was Sie zu den Partnerbeziehungen sagen, bedeutet das, dass die Transsexualität mit Sex nicht so viel zu tun hat, wie landläufig angenommen wird?

Die Betroffenen wehren sich zum Teil nicht ohne Grund gegen die Silbe „sex” im Transsexualismus. Es geht nicht primär um Sexualität. Auch wenn diese gelebt wird, manchmal auch exzessiv zum Beispiel aus Rollenunsicherheit und zur Verdrängung, geht es doch überwiegend um die sich in der körperlichen Begegnung spiegelnde emotionale Bindung und die Annahme durch den Partner. Nicht der Orgasmus steht im Vordergrund, sondern das umfassende Körpererleben, das die erfolgreiche Angleichung in der Gesamtheit erlebbar werden lässt, oder durch die Fantasie für Zukünftiges vorbereitet. So ist die erfolgreich operierte Phalloplastik nur äußerst selten orgasmusfähig berührungssensibel und doch ist es für die Betroffenen wichtig, die Partnerin penetrieren und mitunter zum Orgasmus bringen zu können, um sich vollständig und potent zu fühlen. Aus diesem Grund wird die Gefahr nachhaltiger Orgasmusstörungen durch die geschlechtsangleichenden Operationen in aller Regel bewusst in Kauf genommen, wenngleich diese mit unter 20 % bei Mann-zu-Frau-Transsexuellen verhältnismäßig gering ausfallen. Nicht die sexuelle Befriedigung zählt, sondern die körperliche „Wiederherstellung”.

Meinen Sie, dass transsexuelle Menschen immer eine Psychotherapie brauchen, so wie es in den Leitlinien steht?

Die Betroffenen brauchen nicht immer eine Psychotherapie, aber eine flexible Form der Begleitung mit psychotherapeutischem Charakter, die Informationen vermittelt, Konflikte bewältigen hilft, für das Angestrebte unterstützt und auch medikamentösen Hilfen gegenüber offen ist. Nur in einer begrenzten Zahl der Fälle ist die sonst übliche relativ hochfrequente Richtlinienpsychotherapie notwendig. Die Leitlinien sind mit ihren Empfehlungen auch hierzu als Hilfestellungen gedacht und zur Orientierung sehr sinnvoll. Man darf aber nicht vergessen, dass sie primär den Betroffenen dienen und uns als Behandler nicht unserer eigenen Entscheidungsfindung und Verantwortung entheben. Insofern fordern sie geradezu auch die individuell angepasste Flexibilität sowie eine Verbesserung durch praktische Erfahrungen. Es ist überaus erfreulich, dass sich diese Auffassung bei den interdisziplinär an den Behandlungen und Begutachtungen Beteiligten immer mehr durchzusetzen scheint.

Hat Sie die Arbeit mit transsexuellen Menschen in Ihrer allgemeinen psychotherapeutischen Arbeit beeinflusst? Hat das etwas bei Ihnen verändert?

Die Eigenständigkeit, die mit dem Aufbau der Ambulanz einherging, förderte neben konzeptionellem Denken aufgrund der spezifischen psychotherapeutischen Erfahrungen vor allem die kritische Infragestellung mancher damalig gültiger Überzeugungen über die Betroffenen. Dadurch wurde der kritische Blick auch für andere Bereiche geschärft. Auch meine Zuversicht, allgemein der emotionalen Nähe in der primären Patientenversorgung gewachsen zu sein, beruht nicht unerheblich auf der Bewältigung der besonderen Anforderungen im Kontakt mit den Betroffenen. Schließlich zu erleben, dass Psychotherapie wirklich wirken kann – der Zweifel daran ist oft größer und hält länger an als man denkt – ist ein weiterer sehr prägender Effekt gewesen.

Wir danken Ihnen für das Gespräch.

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