Zusammenfassung
Nach 1945 verlief die Entwicklung der Neurologie hin zu einem eigenständigen Fachgebiet
in beiden deutschen Staaten unterschiedlich. Seit etwa den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts
kann man von einer selbstständigen universitären Etablierung und Institutionalisierung
der Neurologie in der Bundesrepublik Deutschland sprechen. Um diese Zeit konnte sich
das Fachgebiet auch in der DDR etablieren. Nur in Ausnahmefällen erreichte es hier
jedoch akademische Eigenständigkeit durch die Schaffung neurologischer Lehrstühle
oder eigenständiger neurologischer Kliniken. Eine Ausnahme bildete die Universität
Rostock. Schon frühzeitig, 1958, wurde hier ein eigenständiger Lehrstuhl für Neurologie
eingerichtet. Neben wissenschaftsinternen Faktoren spielten dafür insbesondere gesellschaftspolitische
Einflüsse eine maßgebliche Rolle. Damit ist die Rostocker Universitäts-Nervenklinik
ein Beispiel dafür, wie wissenschaftsexterne Faktoren Einfluss auf Wissenschaft und
Disziplingenese haben können.
Abstract
The move towards disciplinary independence in Germany turned out to be more troublesome
than in France or Great Britain and real institutional independence was not established
at German universities until the 1970 s of the 20th century, and this in the Federal
Republic of Germany only. In East Germany (German Democratic Republic – GDR), a division
into Chairs of Psychiatry and Neurology took place at individual universities and
medical colleges only. Nevertheless, in exceptional circumstances, neurology did gain
academic autonomy in the GDR. One such exception was the University of Rostock, where
as early as 1958, the Chair of Psychiatry had been divided into three independent
Chairs of Psychiatry, Neurology and Child Psychiatry. Besides internal scientific
factors, socio-political constraints played a particular role here and had an influence
on the disciplinary differentiation.
Schlüsselwörter
Ostdeutschland - Fächerdifferenzierung - Neurologie im Sozialismus - gesellschaftspolitische
Einflüsse
Key words
East Germany - disciplinary differentiation - neurology in socialism - socio-political
setting
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1 Zur Diskussion um den ersten Lehrstuhl für Neurologie in Deutschland vgl. [6 ]
[7 ]. Nach Karenberg erhielt Max Nonne (1861 – 1959) nach Gründung der Hamburger Universität
1919 zunächst eine außerordentliche Professur und 1925 ein persönliches Ordinariat.
Nonne war damit der erste und zu diesem Zeitpunkt einzige Hochschullehrer in Deutschland,
der sowohl einen unabhängigen Lehrstuhl für Neurologie innehatte als auch gleichzeitig
eine eigenständige Neurologische Universitätsklinik leitete [4 ].
2 So entstanden u. a. 1951 in Freiburg (Richard Jung) und 1955 in Düsseldorf (Eberhard
Bay) die ersten neuen neurologischen Lehrstühle, denen in den 60er-Jahren weitere
folgten. Selbst noch 1962 gab es in der BRD nur 2 eigenständige Ordinariate und zwei
Extraordinariate für Neurologie [3 ].
3 Den Status einer Universitätsnervenklinik erhielt die Heil- und Pflegeanstalt Gehlsheim
(später Psychiatrische und Nervenklinik) erst am 1.4.1946. Natürlich gab es schon
zuvor verschiedene, teils namhafte Fachvertreter wie Max Rosenfeld (1871 – 1956) oder
den Wernicke-Schüler Karl Kleist (1879 – 1960), die sich vorwiegend für neurologische
Themen interessierten.
4 Ein interessanter Aspekt in diesem Zusammenhang ist, dass die 1956 gegründete Gesellschaft
für Psychiatrie und Neurologie der DDR für das Prinzip der Einheit des Fachgebiets
stand. Von Stockert gehörte dem ersten Vorstand dieser Fachgesellschaft an, da er
gleichzeitig der Vorsitzende der entsprechenden Regionalgesellschaft war. Erst 1980
kam es zur Differenzierung innerhalb der DDR-Gesellschaft in sogenannte Sektionen
(Neurologie, Psychiatrie, Kinderneuropsychiatrie und medizinische Psychologie), womit
auch die Eigenständigkeit der Neurologie in der DDR begründet wurde [13 ].
5 Elsaesser, der zuvor in Greifswald und Halle an klinisch-neuropathologische Problemen
gearbeitet hatte, leitete nach seiner Rückkehr nach Greifswald ab 1960 die neu gegründete
Abteilung für Neurohistopathologie und übernahm 1965 die Leitung der gesamten Universitäts-Nervenklinik
[3 ]. Die näheren Umstände seines Weggangs aus Rostock sind nicht bekannt. In Sayks Autobiografie
findet sich der Hinweis, dass seine Entlassung „wegen einer Erkrankung” erfolgte [14 ].
6 Sayk hatte gemeinsam mit Rennert an der traditionsreichen Hans-Berger-Nervenklinik
der Jenenser Universität gearbeitet, die unter Leitung von Rudolf Lemke (1906 – 1957)
stand.
7 In seinen autobiografischen Erinnerungen berichtet Sayk ebenfalls über den Beginn
in Rostock, er spricht hier allerdings von einer Neurologischen Abteilung mit 128
Betten, die auf 5 Stationen in 2 Häusern verteilt waren [14 ].
Dr. med. Ekkehardt Kumbier
Universität Rostock, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Gehlsheimer Straße 20
18147 Rostock
Email: ekkehardt.kumbier@medizin.uni-rostock.de