Zeitschrift für Phytotherapie 2008; 29(5): 211-212
DOI: 10.1055/s-0028-1101524
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Phytotherapie – Quo vadis?

Pflanzenheilkunde zwischen Kräuterweibern, Ethno- und IQWIG-BotanikernHeinz Schilcher
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Publication Date:
03 November 2008 (online)

Das Thema wurde seit Bestehen der Zeitschrift für Phytotherapie zwar schon mehrmals diskutiert, da sich ständig neue Fragen gestellt haben. Aus aktuellem Anlass sollte es erneut aufgegriffen werden und zwar aus einem Blickwinkel, der bislang noch keine spezielle Berücksichtigung erfahren hat. Es betrifft das immer deutlicher erkennbare Auseinanderdriften von wissenschaftlich akzeptierter bzw. vertretbarer Phytotherapie und der volksmedizinischen traditionellen Anwendung von »Heil- und Wildkräutern«. Die Anwendungsmöglichkeiten Letzterer mit unverantwortlichen Indikationen erfahren in der Bevölkerung weit mehr Beachtung und Vertrauen als arzneimittelrechtlich zugelassene Phytopharmaka mit strengen Qualitätsnormen. Fachlich unzulänglich ausgebildete sog. »Heil- und Wildkräuterspezialisten« bzw. »Heilkräuterexperten« schießen wie Pilze aus dem Boden. Mit der Überzeugung, lediglich altes Kulturgut erhalten zu wollen, sind weder die »Heilkräuterspezialisten« noch die Anwender der Kräutermedizin an Drogenmonographien oder an neuesten Erkenntnissen der Phytoforschung interessiert.

Prof. Schilcher (l.) im Gespräch mit einem »Heilkräuterspezialisten« während eines Kräutermarktes im Allgäu.

Esoterisch ausgerichtete Seminare mit der Anleitung zur Herstellung von Kräutersalben, z.B. Engelwurzsalbe zur Behandlung des Stockschnupfens und allergischer Rhinitis, von Heilkräutertinkturen, homöopathischen Essenzen und Medizinaltees haben in Süddeutschland einen enormen Zulauf. Die kürzlich veranstaltete Kräuterkulturwoche, verbunden mit dem 9. Allgäuer Kräutermarkt wurde von rund 1000 »Heilkräuter-Enthusiasten« aus Deutschland, Österreich und der Schweiz besucht. Besonders gefragt waren mehrstündige Vorträge wie »Das Wesen der Heilpflanzen«, wobei aufgezeigt wurde, wie die »unterbrochene Kommunikation zwischen Menschenseele und Pflanzenseele« wiederhergestellt werden kann. Oder der Kurs »Salbenkochen«, wobei die Kursteilnehmer beachten müssen, dass eine »Korrelation zwischen den kosmischen Rhythmen« und den Heilwirkungen der selbst hergestellten Heilkräutersalben besteht. Die Seminarteilnehmer lernten u.a., dass Beifußkraut, als das meist genutzte Heilkraut der Muttergöttin Artemis, der Schutzherrin der Kräuterheilkundigen, eine sehr wirksame und zuverlässige Droge sei, um z.B. Schmerzen bei der Menstruation zu beheben und die Fruchtbarkeit zu stärken. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass Artemisiae vulgaris herba aus Risikogründen von der Kommission E eine Negativ-Monographie erhalten hat. Die Monographien der Kommission E sind dem »Lehrteam« in der Regel nicht bekannt oder sie werden missachtet.

Die Referenten, darunter auch ein naturwissenschaftlich recht abstrus orientierter Ethnobotaniker, nennen sich »Heilpflanzenspezialisten«, »Heilpflanzenfachfrauen«, »Allgäuer Pflanzenvertraute«, »Allgäuer Wildkräuterfrauen«, »Heilerinnen« etc., ohne je eine Prüfung wie z.B. zum Heilpraktiker beim Amtsarzt oder eine Sachkenntnisprüfung für freiverkäufliche Arzneimittel nach § 50 AMG 76 bei der IHK abgelegt zu haben.

Dass im Allgäu rund 30 Kräuterlandhöfe existieren, die für ihre eigene Nutzung und zur Demonstration für ihre Feriengäste 20–40 Arznei- und Gewürzpflanzen anbauen, muss man sehr begrüßen, denn in diesem Fall wird zum Teil vergessenes Kulturgut anschaulich wieder in Erinnerung gerufen. Gleiches gilt für die Wildkräuterwanderungen durch Landschaftsführer, die nahezu in jedem größeren Fremdenverkehrsort wöchentlich angeboten werden. Sofern sich die Landschaftsführer im Wesentlichen auf die botanischen Merkmale beschränken, ist dies sicherlich in Ordnung.

Die Medien, insbesondere die lokalen Tageszeitungen, aber auch zahlreiche Fernseh-Gesundheitssendungen, leisten den selbst ernannten Heilkräuterspezialisten große Schützenhilfe, indem sie den mystischen, esoterischen und wissenschaftlich nicht vertretbaren Anwendungsmöglichkeiten mehr Aufmerksamkeit schenken als validierten klinischen Studien. Im Verbund mit der Tradition verkauft sich überliefertes ungefiltertes »Wissen der Mütter und Großmütter« besser als nüchterne naturwissenschaftliche Untersuchungsergebnisse, die in der Regel ohnehin nur dem engeren Kreis der sachkundigen Fachwissenschaftler bekannt sind. Die Medien sind nicht zuletzt mitverantwortlich, dass in den Augen eines Großteils der Bevölkerung die höchste Kompetenz in Sachen Heilkräuteranwendung nicht beim Apotheker oder Arzt liegen, sondern bei den »Heilkräuterspezialisten«, die aufgrund der »Weitergabe von Erfahrungswissen« eine naturwissenschaftliche bzw. pharmazeutische oder medizinische Grundausbildung nicht für notwendig erachten. Ansichten im Sinne einer rationalen Phytotherapie sind nach Meinung der Betreiber der Kräuterlandhöfe eher hinderlich.

Indikationslyrik – leider nicht aus einem mittelalterlichen Werk, sondern als »Fachinformation« auf einem Kräutermarkt.

Last but not least sind noch drei weitere aktuelle Ereignisse geeignet, den Weg der Phytotherapie in die falsche Richtung zu weisen. Zum einen ist es der Listenentwurf der EU zu den Health Claims für Nahrungsergänzungsmittel und der damit verbundenen Zunahme von qualitativ zweitrangigen pflanzlichen Zubereitungen. Zum anderen sind es Patienteninformationen des Institutes für Qualität und Wirtschaftlichkeit (IQWIG) z.B. zur Wirksamkeit von Johannikrautzubereitungen, welche nicht gerade von einer fundierten Sachkenntnis eines offiziell hoch angesiedelten Instituts zeugt (www.gesundheitsinformation.de/depressionen). Die zu allgemein gehaltenen und zu wenig aufgeschlüsselten Informationen passen eher zu den Empfehlungen der nichtakademischen »Heilkräuterspezialisten«. Von dem dritten, an und für sich sehr erfreulichen Ereignis der Etablierung einer Professur für Komplementärmedizin an der Berliner Charité scheint nach den ersten Verlautbarungen die europäische rationale Phytotherapie wenig zu profitieren, da man sich dort schwerpunktmäßig mit der TCM und Homöopathie beschäftigen will.

Überzeugungsarbeit: Serienauftakt von Prof. Schilcher im Allgäuer Anzeigenblatt. Den Text drucken wir auf S. 242 ab.

Eine kritische Ad-hoc-Bestandsaufnahme ist nur die Hälfte wert, wenn dazu nicht gleichzeitig Vorschläge zur Verbesserung der Situation vorgetragen werden. Die Zunahme von pflanzlichen Nahrungsergänzungsmitteln (NEMs) werden wir nicht verhindern können, nicht zuletzt weil sie gesundheitspolitisch gewollt ist! Was können wir bzw. die Gesellschaft für Phytotherapie tun, um das Auseinanderdriften von wissenschaftlich vertretbarer Phytotherapie und traditioneller Volksmedizin zu stoppen?

Die erste Maßnahme sollte sein, dass die Wissenschaftler aus ihrem Elfenbeinturm heraustreten und ihre Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit und Unbedenklichkeit sowie zu Risiken und Wechselwirkungen der breiten Bevölkerung undogmatisch (!) und mit allgemein verständlichen Worten bekannt machen. Man muss dazu in erster Linie die Lokalredaktionen gewinnen, sollte aber auch den Mut haben, in der Regenbogenpresse Beiträge zu den Grenzen der Phytotherapie unterzubringen.

Phytotherapeuten mit einer qualifizierten, arzneilich orientierten Grundausbildung (Apotheker oder Ärzte) sollten sich den örtlichen Gesundheitsverwaltungen sowie den Volkshochschulen und Tourismusvereinen als Heilkräuterführer für öffentliche Vorträge und Seminare zur Verfügung stellen.

Apotheker und Ärzte sollten eine grobe Kenntnis über die nicht vertretbaren Empfehlungen in Schrift und Wort der »Heilkräuterspezialisten« und »Heiler« haben und sich getrauen, unverantwortliche Empfehlungen, wie z.B. zum sog. »Krampfkraut« (Anserinae herba), als erste therapeutische Maßnahme bei einer Blutvergiftung, öffentlich richtigzustellen.

Die Gesundheitsbehörden sollten prüfen, ob das Führen des Titels »Heilkräuterspezialist« bzw. »Heilpflanzenexpertin« – die Betonung liegt auf Heilen – ohne amtlichen Qualifikationsnachweis, z.B. in Form einer IHK-Prüfung, berechtigt ist. Nach meiner Kenntnis ist die Heilpflanzenausbildung an vier Wochenenden, denen sich z.B. die Allgäuer Wildkräuterfrauen unterziehen müssen, rein privater Natur.

Das Auseinanderdriften ist nur in Grenzen zu halten, wenn die Anzahl sachkompetenter Phytotherapeuten, die den Mut und die Zeit haben, sich öffentlich zu engagieren, deutlich zunimmt. Dabei könnte die Gesellschaft für Phytotherapie einen Beitrag leisten, indem sie hilft, diese Personen zu finden und anzusprechen.

Heinz Schilcher

Immenstadt

Email: schilcher_h@hotmail.com

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