Aktuelle Neurologie 2008; 35 - M335
DOI: 10.1055/s-0028-1086629

Die Lokalisationslehre im Wandel der Zeit

S.A Brandt 1
  • 1Berlin

Die Lokalisationslehre beschreibt die Auffassung, dass für bestimmte Hirnfunktionen umschriebene Regionen des Gehirns verantwortlich sind.

Sie ist die Grundlage für klinisch neurologische Diagnostik und bis in die Gegenwart hinein ein aktuelles aber im Detail auch kontrovers diskutiertes Thema. In diesem Beitrag soll die Entwicklung der Lokalisationslehre seit dem 19. Jahrhundert von Franz Gall über die klinisch neurologischen Beobachtungen von Paul Broca (1861) und Carl Wernicke (1874), die reizphysiologischen Untersuchungen von Fritsch und Eduard Gustav Hitzig (1870), die Stimulationsexperimente von Otfried Foerster (1934) und seinem Schüler, dem Neurochirurgen Wilder Graves Penfield (1950) sowie die zytoarchitektonische Forschung von Neuroanatomen wie Korbinian Brodmann (1909) und den Vogts (1919) zusammengefasst werden. Die Lokalisationslehre war immer wieder dem Vorwurf der unrealistischen Übertreibung ausgesetzt (z.B. bei Karl Kleist 1934). Zur gleichen Zeit plädierte z.B. Kurt Goldstein (1934) als Kritiker eines ausschließlich an topographischen Hirnkarten orientierten Verständnisses von höheren Hirnfunktion für ein flexibleres System, das auch die erstaunlichen Leistungen der Restitution nach Hirnläsionen abbilden kann. Die Untersuchungen nach iatrogener Hemisphärektomie oder Kallosotomie zeigten nicht nur hemisphärielle Spezialisierung, sondern auch erstaunliche Abweichungen von einer strengen Lokalisationslehre (z.B. Zülch 1975). Durch die strukturelle und funktionelle Bildgebung, die modernen intraoperativen und transkraniellen Hirnstimulationsverfahren und den modernen tierexperimentellen Methoden ist die Lokalisationslehre auch von aktueller Bedeutung. Parallelen zu früheren Kontroversen werden beispielhaft an der Forschung zur funktionellen Neuroanatomie im visuellen System vertieft.