Gesundheitswesen 2008; 70 - A85
DOI: 10.1055/s-0028-1086310

Stigmatisierung durch Prävention? Tendenzen zur Problematisierung der Röntgenreihenuntersuchung in der Bundesrepublik Deutschland bis 1970

D Romberg 1, D Schäfer 1
  • 1Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Medizinische Fakultät der Universität zu Köln

Einleitung/Hintergrund: Das westdeutsche Gesundheitssystem knüpfte in verschiedener Hinsicht an medikale Konzepte der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Diktatur an. Verhältnismäßig gut untersucht sind die von der sozial-, später der rassenhygienischen Bewegung getragenen Fürsorgestellen des öffentlichen Gesundheitsdienstes seit den 1920er Jahren, die besonders gefährdete Bevölkerungsteile primär- bzw. sekundärpräventiv zu erreichen suchten, wobei das Spektrum der Maßnahmen von der Beratung über die Reihenuntersuchung bis zur zwangsweisen Internierung reichte. Nach 1945 lassen sich eindeutig Kontinuitäten im Bereich der Tuberkulose-Fürsorge feststellen, allerdings mit großen Unterschieden zwischen den einzelnen Bundesländern, was bislang im Gegensatz zu anderen Aktivitäten des öffentlichen Gesundheitswesens nach 1945 noch kaum Gegenstand medizinhistorischer Forschung war. Überhaupt keine Beachtung fand die Frage, inwieweit durch die Röntgenreihenuntersuchung eine Stigmatisierung der „positiv“ diagnostizierten und zur Nachuntersuchung einbestellten Bevölkerungsanteile geschah und wie die Gesundheitsämter auf diese Gefahr reagierten. Material und Methoden: Der Beitrag will neben einer Übersicht besonders auf zeitgenössische Hinweise eingehen, die den Zwang zur (Röntgen-)Reihenuntersuchung und weiterer Maßnahmen der Tb-Fürsorge sowie die daraus folgende Stigmatisierung der Patienten medizinethisch reflektierten. Als Quellen dienen Fachzeitschriften und Handbücher der Tuberkuloseforschung sowie aus dem Bereich des öffentlichen Gesundheitswesens. Ergebnisse: Einzelne Artikel in den Zeitschriften „Der Tuberkulosearzt“ und „Der öffentliche Gesundheitsdienst“ weisen auf die Problematik der Stigmatisierung durch die Einbestellung zur Nachuntersuchung hin. Insbesondere wird darauf hingewiesen, dass die Bevölkerung die Gesundheitsämter genau beobachte und einbestellte Personen bekanntmache. Als Gegenmaßnahme wird unter anderem Diskretion empfohlen. Diskussion: Eine Rolle bei der Abschaffung der gesetzlich vorgeschriebenen Reihenuntersuchung spielten diese ethischen Fragestellungen allerdings nicht; im Vordergrund standen vielmehr ökonomische Aspekte und die Frage der Schädigung durch Röntgenstrahlen.

Literatur:

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[3] Jütte R. „Wer keine Nachricht erhält, darf sich als gesund betrachten“. Zur Geschichte der zwangsweisen Prävention, in: Hauptsache gesund! Gesundheitsaufklärung zwischen Disziplinierung und Emanzipation, hrsg. Von Susanne Roeßiger und Heidrun Merk. Marburg 1998; 22–33.

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