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DOI: 10.1055/a-2702-9247
Hey guten Morgen, wie geht es Dir?


Juno, um die 50, ist Performance-Künstlerin und pflegt ihren kranken Mann Jupiter, der an Multipler Sklerose leidet und im Rollstuhl sitzt. Der Alltag ist durchstrukturiert mit Arbeit, Einkaufen und Haushalt führen. Dazu kommt noch, dass das Geld knapp ist.
In den Nächten liegt Juno wach, leidet unter Schlafstörungen und kann nur wenige Stunden Ruhe finden.
Immer wieder erhält sie Nachrichten von Love Scammern – Männern aus Afrika, die Fotos von seriösen weißen Männern aus dem Internet verwenden, um einsamen, nicht mehr ganz jungen Frauen in Europa die große Liebe vorzutäuschen. Irgendwann passieren dann unerwartete Vorkommnisse, und sie brauchen dringend Geld. Gefangen in ihrer Sehnsucht nach Liebe fallen die Frauen auf diese Tricks herein, und überweisen große Summen Geld an ihre Internet-Bekanntschaften.
Nicht so Juno, die mit diesen Love Scammern spielt, ihnen phantastische Geschichten vorspielt und sie dann wegklickt. Auch als sie im Internet auf Benu trifft, entlarvt sie sein skurriles Trugbild rasch „Und übrigens, du bist gar nicht Owen Wilson aus Texas. Du bist ein Love Scammer in einem Internetcafé. Und ich bin nicht aus Rumänien. Wieʼs mir geht? Wenn duʼs wissen willst: Lausig gehtʼs mir. Ich kann nämlich nicht einschlafen.“
Benu ist anders, blockiert nicht einfach ihr Profil nach der Enttarnung, sondern chattet humorvoll mit Juno. So entsteht zunächst eine lockere Verbindung. Juno erzählt nicht die Wahrheit von sich, bleibt vage und erwartet jederzeit die erste Geldforderung. Benu scheint fasziniert von der Andersartigkeit, der unkonventionellen Art und Weise, mit der die Europäerin ihm begegnet. Mit der Zeit wendet sich das Blatt. Die virtuelle Beziehung wird für ihn immer wichtiger, er stellt Juno seinem Freund seiner Familie vor, und nun ist sie es die mit seinen Gefühlen spielt.
Eingebettet sind diese kurzen, abgehackten Chat Dialoge in den Alltag von Juno. Es gibt kaum wirkliche Freunde, durch ihren kranken Mann ist sie sozial isoliert, einsam und erschöpft. Man erfährt Bruchstücke ihrer Biografie, dass sie schon als Kind eine Außenseiterin war, mit anderem Kleidungsstil und ihrem spezifischen Interesse am Tanz und am Weltall.
„Was war Schlaflosigkeit anderes, als die Sternbilder anzusehen und eine Art Schutz oder Dach über sich zu wissen. Sternbilder waren eine Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Mythologie. Sie zeigten die rührende Phantasie der Menschen genauso wie ihr enormes Wissen. Man nutzte die Sternbilder zur Navigation und erforschte ihre einzelnen Sterne, manche waren noch jung, andere uralt.“
Mit einer poetischen Sprache schafft es Martina Hefter, die zuletzt vor allem Lyrik Bände veröffentlichte, Stimmungen aufzubauen und ihre Hauptperson zu charakterisieren. Diese trägt durchaus autobiografische Züge, sei es der Beruf als Performance-Künstlerin oder auch die Begegnung mit Love Scammern im Internet.
Trotz der großen Themen wie Einsamkeit und Sehnsucht ist dieser Roman nicht düster oder schwer, sondern erfrischend in den prägnanten Chat-Nachrichten und vor allem auch humorvoll. Juno wird sehr plausibel, zerrissen und vielschichtig gezeichnet, und der Leser kann gut nachvollziehen, was sie in ihren schlaflosen Nächten reizt, über tausende von Kilometern Entfernung mit einem fremden Gegenüber in Kontakt zu treten, einem Gegenüber, dass in einer komplett anderen Welt und Zivilisation lebt. Juno versucht sich durch Dokumentationen, die sie ansieht und Bücher, die sie liest, mit der Lebenswelt Nigerias auseinanderzusetzten, um zu verstehen, was Benu dazu treibt, ein Love Scammer zu sein.
Aus diesem Spiel, verbunden mit der Ungewissheit, was wirklich die Wahrheit ist und was Trugbild, bezieht der Roman seine Kraft und Faszination. Zu Recht wurde er dafür mit dem letztjährigen deutschen Buchpreis ausgezeichnet.
„Immer öfter ist es ihr inzwischen egal, wenn sie nachts draußen auf der Straße weint und ihr Leute entgegenkommen. Sie rauscht ab und zu ungeniert mit Tränen im Gesicht durch so manche fröhliche Gruppe.
Soll Juno das den Love Scammern erzählen? Dass sie die weinende Frau von Leipzig Schleußig ist? Dann würden sie ihr auch nur wieder Memes schicken, zwei kleine Hunde, die sich gegenseitig umarmen, oder zwei Hände, die ein Herz mit den Fingern formen. Memes die einen nur noch mehr weinen lassen. Memes mit Motiven, von denen nur Love Scammer denken, dass sie Frauen glücklich machen.“
Otto Gehmacher, Hohenems
Publikationsverlauf
Artikel online veröffentlicht:
10. November 2025
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