Z Sex Forsch 2025; 38(03): 168-169
DOI: 10.1055/a-2664-3960
Bericht

10 Jahre Interdisziplinärer Workshop „Kritische Sexarbeitsforschung“ – Perspektiven, Kontinuitäten und neue Impulse

Nevien Kerk
1   Institut für Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität
,
Lisa Mohrat
2   Institut für Kulturwissenschaft, Universität der Bundeswehr München
,
Clara Gerloff-Blood
3   Institut für Geschlechterstudien, Technische Hochschule Köln
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Am 15. und 16. November 2024 fand der 10. Interdisziplinäre Workshop „Kritische Sexarbeitsforschung“ der Gesellschaft für Sexarbeits- und Prostitutionsforschung statt. Mit diesem Jubiläum blickt der Workshop auf eine Dekade zurück, in der er nicht nur die ungebrochene Relevanz des Themenfeldes unter Beweis gestellt, sondern auch das kontinuierliche Interesse von Forschenden verschiedener Disziplinen dokumentiert hat, die sich mit den vielfältigen Aspekten der Sexarbeits- und Prostitutionsforschung auseinandersetzen.

Obwohl der diesjährige Workshop keinem Themenschwerpunkt folgte, traten zentrale Themen wie die Regulierung von Sexarbeit und deren aktuelle Bezugspunkte deutlich hervor. Die Spannweite der Beiträge reichte von grundlegenden Diskussionen zu Begrifflichkeiten bis hin zu tiefgehenden Analysen spezifischer historischer Kontexte und methodologischer Ansätze. Dabei zeigte sich erneut, wie wichtig es ist, ein offenes Forum für Diskussionen zu schaffen, welches nicht nur Unterschiede sichtbar macht, sondern auch Gemeinsamkeiten aufzeigt, um so neue Perspektiven und Fragestellungen in der Sexarbeitsforschung zu fördern.

Doch warum ist ein solcher Austausch essenziell? Er bietet dem wissenschaftlichen Nachwuchs verschiedener Disziplinen eine wertvolle Unterstützungsstruktur, in der sie fundiertes Feedback zu ihren Arbeiten erhalten und in einem konstruktiven Umfeld miteinander in den Dialog treten können. Damit trägt der Workshop dazu bei, die kritische Auseinandersetzung mit einem aktuellen und facettenreichen Thema weiter voranzutreiben.

Sechs Referent*innen unterschiedlicher Disziplinen und verschiedener Karrierestufen stellten auf dem diesjährigen Workshop ihre Forschungsarbeiten vor. Diese Beiträge unterstreichen auch den interdisziplinären Charakter der Tagung.

Eröffnet wurde der Workshop mit dem Vortrag von Ines Hölbl von der Universität Wien zu ihrem Dissertationsprojekt zu den Anforderungen und Ressourcen in der Sexarbeit aus arbeitspsychologischer Perspektive. Ines präsentierte dabei die Ergebnisse der qualitativen Erhebung ihrer Mixed-Methods-Studie, welche die Arbeitsbedingungen in der regulierten Sexarbeit in Österreich untersucht. Anhand des Job-Demand-Resources-Modells zeigte sie auf, dass emotionale Arbeit, Diskriminierung und Stigmatisierung sowie fehlende soziale Unterstützung zu den größten Herausforderungen gehören, während Faktoren wie Autonomie, Entscheidungskontrolle oder Arbeitsinformationen als relevante Ressourcen identifiziert wurden. Der Vortrag gab wichtige Impulse für die Diskussion um die bisher nur seltene Anwendung arbeitspsychologischer Modelle im Kontext von Sexarbeit und Prostitution und den Einfluss bestehender Regulierungsmodelle im europäischen Raum. Gemeinsam mit den Teilnehmenden wurde zudem diskutiert, wie quantitative Verfahren angemessen in diesem Forschungsfeld durchgeführt werden können.

Anna Vosgerau von der Friedrich-Schiller-Universität Jena präsentierte ihre Forschung zur Leipziger Arbeitsanstalt in der Riebeckstraße 63, die seit ihrer Gründung 1892 als ein Ort der Ausgrenzung und Repression diente. Ursprünglich als Arbeits- und Erziehungsanstalt für u. a. Prostituierte im Kaiserreich gegründet, wandelte sich die Funktion der Einrichtung im Nationalsozialismus zu einem Internierungs- und Sammellager für politisch Verfolgte, Zwangsarbeiter*innen sowie zur Deportation von v. a. marginalisierter Menschen. Sie untersucht, wie Prostitution unter verschiedenen politischen Regimen reglementiert wurde und zeigt anhand konkreter Biografien von Inhaftierten die Dynamik zwischen staatlicher Repression und Widerständigkeit auf. Dabei stützt sie sich auf Dokumente aus Polizeiakten, wodurch die Rekonstruktion der Biografien auf Fremdperspektiven basiert. Insbesondere wurde der Diskurs um Prostituierte als angebliche Verbreiterinnen von Krankheiten thematisiert – ein Narrativ, das sowohl während der Kolonialzeit als auch im Nationalsozialismus prägend war und bspw. während der Corona-Pandemie wieder aufflammte. Hierbei wurde auch auf heutige Praktiken verwiesen, wie die Pflichtuntersuchungen von Sexarbeitenden in Österreich. Diskutiert wurde zudem, inwiefern die Begriffe „Prostitution“ oder „Sexarbeit“ in der Forschung zu historischen Kontexten angemessen sind, insbesondere wenn es um Formen von Zwangsarbeit in Wehrmachtbordellen zur NS-Zeit geht. Die Arbeit wird möglicherweise im Rahmen einer Ausstellung in der Riebeckstraße 63 einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Im ersten Vortrag des zweiten Tages stellte Nevien Kerk von der Ludwig-Maximilians-Universität München erste Ideen zu ihrem geplanten Promotionsvorhaben vor. In dieser geplanten ethnografischen Studie geht es um die Rolle von Körpern und Emotionen in den Kommodifizierungsprozessen im Feld der Sexarbeit. In dieser Anfangsphase interessiert sich Kerk jedoch auch für technologische Fortschritte, die für Sexualität relevant sind, wie z. B. Innovationen im Bereich von Apps und Webseiten, die Möglichkeiten für intime und sexuelle Interaktionen bieten. Im Fokus des Vortrags und der anschließenden Diskussion stand die Frage, wie thematische Ansätze entwickelt werden können, um diese beiden Themen miteinander zu verbinden. Dabei kristallisierte sich v. a. eine Verknüpfung über einen Fokus auf Intimkommunikation im Zuge der Kommerzialisierung von Sex und Sexualität heraus und darauf, wie diese in den beiden Feldern stattfinden kann. Diese Idee wurde von Teilnehmenden des Workshops angeregt und weiter ausgearbeitet.

Die Perspektive der Sexarbeitskund*innen wurde durch Frauke Ott von der Universität Leipzig beleuchtet, welche erste Erkenntnisse ihrer Masterthesis zum Wissensgewinn und zur Praxis von Kund*innen vorstellte. Durch qualitative Interviews mit Kund*innen analysiert Ott dabei, wie spezifisches Wissen in der Interaktion zwischen Kund*innen und Sexarbeitenden entsteht, gefestigt und weiterentwickelt wird. Die Untersuchung gibt einen Einblick in vielfältige Wissensformen und beleuchtet dabei geschlechtsspezifische Kommunikationspraktiken. Innerhalb der Diskussion wurde insbesondere die Herausforderung, geschlechtliche und sexuelle Identitäten im Forschungsfeld der Sexarbeit und Prostitution jenseits heteronormativer, binärer Kategorien zu berücksichtigen, adressiert. Wenngleich eine solche Perspektive auf geschlechtliche und sexuelle Vielfalt von besonderer Bedeutung ist, wird sie bislang nur selten in Forschungsarbeiten zu diesem Themenfeld eingenommen.

Ezra Kücken von der Universität Marburg stellte im Rahmen der Tagung ihre Masterarbeit vor, die sich mit der zentralen Rolle von Prostitution im kolonialen Hongkong befasst. Unter den Bedingungen patriarchalischer, imperialer Kapitalismen sowie einer aufkommenden medizinischen Expertise wurde Prostitution zum Fokus imperialer Regulierung. Die Contagious Diseases (CD) Ordinances verdeutlichen, wie Sexarbeit in kolonialen Strukturen kontrolliert wurde. Besonders in Hongkong, wo 1857 die erste britische CD-Verordnung erlassen wurde, prägten rassistische und geschlechtsspezifische Zuschreibungen die Identität der „kolonialen Prostituierten“. Sie wurde nicht nur als medizinisches Konstrukt und „racial other“ definiert, sondern auch als notwendiger Bestandteil kolonialer Maskulinität und als wirtschaftlich ausgebeutetes Subjekt innerhalb des Kapitalismus. So wiesen Bordellbezirke oftmals eine soziale und wirtschaftliche Segregation auf, die entlang von Klassen organisiert war. Die Arbeit zeigt, dass Prostitution in Hongkong ein wichtiges historisches Beispiel ist, das in ähnlicher Form in anderen Kolonialstädten wie Casablanca ebenso zu finden war.

Dr. Joana Hofstetter von der Scuola Normale Superiore präsentierte im letzten Beitrag des Workshops Ideen für das Forschungsvorhaben ihrer Postdoc-Phase. Bereits in ihrer Dissertation setzte sie sich intensiv mit Prostitutionspolitik und der kollektiven Selbstorganisation Sexarbeitender auseinander. In ihrem angestrebten Forschungsprojekt beschäftigt sie sich mit der Anti-Sexarbeitsbewegung im Hinblick auf den fortschreitenden Rechtsruck in Deutschland und Europa. Die Entwicklungen und Strukturen dieser Bewegungen sind bisher kaum erforscht, weshalb ihr Postdoc-Projekt diese Lücke untersuchen und dabei vereinfachte dichotome Narrative hinterfragen möchte. Ein besonderes Augenmerk soll dabei auch auf feministische Perspektiven liegen. Hierzu teilte Joana erste Ideen und Einsichten, wie dieses Thema strukturiert und eingegrenzt werden kann. Auch in dieser Arbeitsgruppe stand die Diskussion mit den anderen Teilnehmenden im Vordergrund. Neben inhaltlichen Diskussionspunkten ging es auch um methodologische Ansätze, die in dieser qualitativen Studie angewendet werden können.

Der 10. Interdisziplinäre Workshop Kritische Sexarbeitsforschung bot einen besonderen Raum für den disziplinübergreifenden Austausch zwischen Forschenden unterschiedlicher Karrierestufen und Akteur*innen aus den Praxisfeldern der Sexarbeit und Prostitution, während der Diskussionen der verschiedenen Beiträge, aber auch beim lockeren Zusammenkommen nach dem ersten Workshoptag. Die diesjährigen Beiträge beleuchteten dabei die historischen Kontinuitäten repressiver Regulierungspraktiken, welche das Feld der Sexarbeit – im deutschsprachigen sowie im internationalen Kontext – weiterhin maßgeblich prägen. Zugleich wurden Schnittstellen zwischen historischen Perspektiven und gegenwärtigen Herausforderungen diskutiert, etwa im Kontext erstarkender antifeministischer Bewegungen oder der anstehenden Evaluation des Prostituiertenschutzgesetzes 2025. Der Workshop verdeutlichte erneut die Bedeutung eines offenen Forums, welches es ermöglicht, dominierende Diskurse kritisch zu beleuchten und neue vielfältige Perspektiven in der Sexarbeits- und Prostitutionsforschung zu eröffnen.

Der nächste Interdisziplinäre Workshop der Gesellschaft für Sexarbeits- und Prostitutionsforschung wird im Herbst 2025 stattfinden: https://gspf.info/



Publication History

Article published online:
05 September 2025

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