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DOI: 10.1055/a-2664-3785
Beruhigende Botschaften in stürmischen Zeiten – Tagungsbericht der Jahrestagung der Gesellschaft für Sexualwissenschaft 2024

Wie der Titel der diesjährigen Jahrestagung der Gesellschaft für Sexualwissenschaft (GSW) „Stürmische Zeiten – Jugendsexualität im Wandel“ vermuten lässt, standen gewisse Erwartungen im Fokus der Auseinandersetzung mit der Sexualität einer heranwachsenden und transformativen Altersgruppe. Erwartungen im Sinne einer herausfordernden, zerstörerischen, aber auch energiegeladenen Performance von Sexualität der heutigen Jugend mit hohem Gestaltungspotenzial im Vergleich zu früheren Generationen. Und so lautete eine der zentralen Fragestellungen, welches die zentralen Merkmale der heutigen Jugend sind und worin sich die Jugendsexualität der Gen Z und Gen Alpha von denen der Boomer abgrenzen lässt? Was ist evtl. gleich oder zumindest ähnlich geblieben? Wo gibt es gravierende, vielleicht sogar alarmierende Entwicklungen?
Die mittlerweile 22. Tagung seit Bestehen der GSW, die am 16. November 2024 in den Räumen des Institutes für Psychotherapie in Leipzig stattfand, beleuchtete aktuelle sozialwissenschaftliche Befunde und damit verbundene Diskurse zur Jugendsexualität, gab Einblicke in abweichendes Verhalten unter Jugendlichen und bestehende Präventionsansätze und informierte über die psychische Gesundheit von Jugendlichen und deren Auswirkungen auf die Sexualität. Die Fachtagung führte damit erneut erfolgreich ihren interdisziplinären Ansatz fort. Die Veranstaltung brachte Expertinnen und Experten aus Sozial- und Sexualwissenschaft, Pädagogik, Psychologie und Medizin zusammen und schuf eine Plattform für den fachübergreifenden Austausch und eine qualifizierte Weiterbildung. Im Unterschied zu vergangenen Fachtagungen der GSW wurde mit dem neugestalteten, interaktiv ausgerichteten Tagungsformat mit Workshops und Podiumsdiskussionen auf die Wünsche früherer Teilnehmer*innen eingegangen und ein verstärkter Fokus auf Austausch und Partizipation gelegt.
Nach einigen Grußworten durch die Vorsitzende der GSW, Sabine Wienholz, eröffnete Konrad Weller, emeritierter Professor für Psychologie/Sexualwissenschaft an der Hochschule Merseburg, den Block der Impulsvorträge mit seinem Beitrag „Sexualität und Partnerschaft Jugendlicher: Aktuelle Befunde aus den PARTNER-Studien“. Die seit 1972 durchgeführten Studien liefern ein facettenreiches Bild zu partnerschaftlichen und sexuellen Einstellungen und Verhaltensweisen Jugendlicher im Zeitalter der sexuellen Liberalisierung. Die 2020/2021 durchgeführte PARTNER 5-Studie ermöglicht über die historische Perspektive hinaus aktuelle Vergleiche zwischen Jugendlichen und Erwachsenen verschiedener Altersgruppen. Vorgestellt wurden Ergebnisse zu Erfahrungen mit Partnerschaft, Solo- und Partnersex sowie verschiedenen Formen medienvermittelter Sexualität (erotische Kommunikation und Sexualpartner via Internet, Sexting). Dabei fielen Begriffe wie historischer Prozess der Singularisierung, biografischer Aufschub der ersten Partnerschaft, Anstieg der Partnermobilität vor dem Hintergrund einer Pluralisierung und Diversifizierung von Partnerschaftsdefinition. Weller betonte dabei, dass keine Skandalisierung sexualwissenschaftlicher Themen vorliegt, sondern vielmehr historische Entwicklungen und Veränderungen in der Legitimation sexueller Beziehungen außerhalb von Ehe und festen Partnerschaften betrachtet werden müssen. Ein weiterer Diskussionspunkt waren Optionen zu binären und nicht-binären Codes in zukünftigen Partnerschaftsstudien.
Torsten Linke, Professor für Sozialarbeitswissenschaft an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig, widmete sich in seinem Beitrag „Sexualisierte Gewalt unter Jugendlichen. Ein Blick auf den aktuellen Forschungsstand“ Ergebnissen aus der bereits zitierten PARTNER 5-Studie sowie aus der Speak-Studie (https://www.speak-studie.de) und der Jugendsexualitätsstudie des Bundesinstituts für Öffentliche Gesundheit (BiÖG), die auf die hohe Bedeutung der Prävalenz nicht-körperlicher und körperlicher sexualisierter Gewalt unter Jugendlichen verweisen. Sein Vortrag hob die Diskrepanz zwischen offizieller Kriminalstatistik und dem vermuteten Dunkelfeld hervor. Linke stellte die psychologischen und physiologischen Dimensionen von Geschlechtsreife gegenüber und hinterfragte sie kritisch in Zusammenhang mit der aktuellen Strafmündigkeit von Jugendlichen, überleitend zu strafrechtlichen Aspekten von Jugendpornografie. Er beleuchtete die Bandbreite sexueller Gewalt, die von verbalen Beleidigungen über nicht-konsensuale Weitergabe von Filmmaterial bis hin zu körperlichen Übergriffen reicht, und machte deutlich, dass gerade im Jugendalter das schulische Umfeld als Risikoort für sexuelle Gewalterfahrungen wahrgenommen wird. Die präsentierten Ergebnisse zu sexueller Gewalt unter Jugendlichen lieferten die Grundlage für weiterführende Diskussionen über Präventionsstrategien und deren Umsetzung und Wirkweise in der Schul- und Sozialpädagogik.
Im dritten Beitrag der Impulsvorträge präsentierte Dr. Rainer Papstdorf, Oberarzt und Leiter der Jugendstation der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Leipzig, einen psychiatrisch-psychotherapeutischen Blick auf Jugendsexualität und psychische Gesundheit. Seine Expertise basiert auf der Arbeit mit Jugendlichen, die aufgrund psychischer Erkrankungen in vollstationären Einrichtungen betreut werden. Anhand von Fallbeispielen demonstrierte er entwicklungspsychologische Störungsbilder sowie psychiatrische und psychotherapeutische Therapiemöglichkeiten. Dabei wurde deutlich, dass Scham und Kommunikationsdefizite zentrale Herausforderungen in der therapeutischen Arbeit darstellen bspw. in der Arbeit mit Körperbildern oder dem Libidoerleben. In der anschließenden Diskussion wurden Zusammenhänge zwischen psychischen Störungen und sexueller Gewalt beleuchtet sowie Ansätze für Beratungs- und Kommunikationsstrategien in der Qualifizierung von Ärzt*innen auf dem Gebiet der Sexualwissenschaft kritisch hinterfragt.
Der zweite Teil der Fachtagung fand erstmals seit 2015 wieder in Form von Workshops statt, um ausgewählte Themen und Interessengebiete zu vertiefen und einen aktiven Austausch der Tagungsteilnehmenden zu ermöglichen.
Joachim Wagner, Sexualpädagoge u. a. am Familienplanungszentrum Balance in Berlin, leitete einen interaktiven Workshop zum Einfluss von pornografischen Inhalten auf die sexuelle Entwicklung von Jugendlichen. Anhand von Fallbeispielen und Erfahrungen der Teilnehmenden in der sexualpädagogischen Arbeit wurden methodische Konzepte vorgestellt und kritisch reflektiert und aktuelle Fachliteratur ausgetauscht. Wagner betonte die Nutzung von Pornografie unter Jugendlichen zur Demonstration von Autonomie, Neugierbefriedigung oder zum provozierenden Auftritt in Gruppenkontexten. Der Workshop diente in erster Linie dem Austausch und der Diskussion methodischer Ansätze zur Vermittlung von Medienkompetenz bei Jugendlichen.
Ralph Huppertsberg, Polizeibeamter und systemischer Berater, diskutierte in seinem Workshop Herausforderungen der Polizeiarbeit bei der Ermittlung sexueller Übergriffe. Anhand eines Fallbeispiels widmete er sich der Frage, wie Strafverfolgungsorgane menschlich und zugleich effektiv agieren können im Kontext einer sich schnell verändernden Jugendsexualität, insbesondere im Zusammenhang mit einer immer digitaleren Welt. Darauf ausgerichtete Schulungen und Weiterbildungen würden kaum angeboten, die Aufdeckung unterläge häufig dem Zufall, es fehle an standardisierten, professionellen Befragungstechniken, die laut Huppertsberg zwingend in die polizeiliche Ausbildung gehören. Die Strafverfolgung sei nicht für die aktuellen Herausforderungen der Jugendsexualität gewappnet, lautete das Fazit der Bestandsaufnahme. Die Teilnehmenden setzten sich weiterhin intensiv mit juristischen Fragestellungen unter ethischen und moralischen Gesichtspunkten auseinander wie dem Zwang zur Sachbeweisgewinnung versus Glaubwürdigkeitsgutachten. Eine Alternative könnte hier bspw. das Modell der Childhood Houses der „Verfahrensunabhängigen Spurensuche“ bieten als Teil der medizinischen Versorgung durch speziell geschultes Fachpersonal.
Den Abschluss der Veranstaltung bildete eine Podiumsdiskussion, in der Konrad Weller, Joachim Wagner und Anja Jonas u. a. einen Blick in die Zukunft der Sexualpädagogik und Sexuellen Bildung wagten. Eingeleitet wurde die Diskussion mit einem kurzen Bericht zu den zentralen Fragestellungen und Diskussionspunkten innerhalb der Workshops. Auf die Frage, wie stürmisch die Zeiten der Jugendsexualität mit Blick auf geopolitische Entwicklungen und historische Marker – zu nennen die Unaufgeklärtheit der 1990er, die sexuelle Verwahrlosung der 2000er, die Missbrauchsaufdeckungen der 2010er – aktuell sind, konnte Weller „beruhigende Botschaften in stürmischen Zeiten“ senden. Auch wenn die heutige Zeit geprägt ist von stetigen Veränderungen, so zeigen die Ergebnisse zur Jugendsexualität aktuell wenige „besorgniserregende“ Entwicklungen. Im Gegenteil, die heutige Jugendgeneration zeige überraschend viele Übereinstimmungen mit den Wünschen und Vorstellungen vorangegangener Generationen. Die Aufgabe der Sexualwissenschaft liege darin, die Entwicklungen mit gesicherten Ergebnissen zu begleiten und vom Aufmerksamkeits-Bias abzugrenzen. Für eine aufgeschlossene, progressive Sexualpädagogik brauche es sensibilisierte und supportive Zusammenschlüsse von geschulten Personen, um vereint ein klares Zeichen gegen rechtskonservative oder anderweitig zerstörerische Kräfte zu setzen.
Die Podiumsdiskussion bot ebenfalls Raum für die Darstellung ausgewählter Ergebnisse aus Jonas Promotionsprojekt zu minderjährigen Müttern und deren Inanspruchnahme von sozialen Unterstützungsangeboten. Ähnlich wie in den Studien zu Teenagerschwangerschaften aus den Jahren 2004 bis 2007 gestaltete sich der familiäre und schulische Hintergrund der Minderjährigen, und auch die Motive hinter der Mutterschaft lassen sich zusammenfassen als der Versuch, einer prekären Lebenssituation zu entkommen. Deutlich detaillierter als in den bisherigen Untersuchungen konnte sie für eine gelingende Lebensgestaltung die Kombination aus familiärer, partnerschaftlicher und sozialpädagogischer Unterstützung aufzeigen. Waren diese auf die Möglichkeiten und Bedürfnisse der Mutter abgestimmt, konnten Hilfesysteme langfristig wirken. Eine Nicht-Inanspruchnahme lag bspw. in diskriminierendem Verhalten von Fachpersonen begründet.
Während der Pausenzeiten stellte die Ärztin Milena Bartels für Interessierte das von ihr verfasste Kinderbuch „Kiezkinder – Wir mischen mit!“ vor, das im März 2024 bei Orlanda erschienen war. Auf einfühlsame Erzählweise wird jungen Leser*innen von 8 bis 12 Jahren vermittelt, dass Vielfalt eine Bereicherung darstellt und jede Lebensweise respektiert und geachtet werden sollte. Das Buch ermutigt Kinder, über ihre eigenen Erfahrungen hinauszuschauen, Diversität und Queerness werden in den aufgezeigten Lebenswirklichkeiten sichtbar und verstehbar. Die Autorin hatte dazu vorab bundesweit Interviews gegeben und stand für Fragen und Austausch zur Verfügung.
Die diesjährige Fachtagung der Gesellschaft für Sexualwissenschaft e. V. bot einen umfassenden Einblick in die komplexen Themen der Jugendsexualität mit den Schwerpunkten sexualisierter Gewalt und psychischer Gesundheit von Jugendlichen. Die interdisziplinäre Herangehensweise ermöglichte einen regen Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis und die präsentierten empirischen Studien und innovativen Ansätze lieferten wertvolle Impulse für zukünftige Forschung und Praxis. So bleibt festzuhalten, dass jede Generation von Jugendlichen vor der faszinierenden und spannenden Aufgabe steht, die eigene Sexualität zu entdecken. Das überarbeitete Tagungsformat, das interaktive Elemente wie Workshops und Podiumsdiskussion beinhaltete, wurde von den Teilnehmer*innen sehr positiv aufgenommen. Die nächste Fachtagung findet am 25. Oktober 2025 anlässlich des 35-jährigen Bestehens der GSW statt und wird ganz in ihrer Tradition einen interdisziplinären Ansatz wagen.
Publication History
Article published online:
05 September 2025
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