Nervenheilkunde 2025; 44(11): 808-811
DOI: 10.1055/a-2628-5715
Geist & Gehirn

Darf man eine Krankheit behandeln, die moralisches Handeln bewirkt?

Autoren

  • Manfred Spitzer

Galactose-α-1,3-galactose ist ein Kohlenhydrat, das in Zellmembranen von Säugetieren vorkommt, nicht jedoch beim Menschen. Weil der Name dieses Zuckers so schwer auszusprechen ist, kürzt man ihn „Alpha-Gal“ ab. Das Gen GGTA1 kodiert das Enzym Glykoprotein Alpha-Galactosyltransferase 1 zur Produktion von Alphal-Gal im Körper. Sowohl die Altweltaffen als auch unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen, und wir selbst haben das Gen jeweils vor weniger als 28 Millionen Jahren unabhängig voneinander verloren [1]. Durch diesen „Verlust“ wurden Menschen resistenter gegenüber dem lebensbedrohlichen Krankheitsbild der Sepsis [2]. Zugleich brachte der Verlust auch eine Vorverlegung der Menopause mit sich und damit eine Verminderung der Zeit der Reproduktionsfähigkeit. Mathematische Modelle konnten zeigen, dass das Überleben einer Sepsis die reproduktive Fitness stärker erhöht als sie die Vorverlegung der Menopause vermindert. Unter dem Strich, d. h. in evolutionärer Hinsicht, ist dieser Verlust beim Menschen daher mit einem Reproduktionsvorteil verbunden, weswegen sich diese Mutation durchgesetzt hat [3] [4] [5].

Alpha-Gal wird seit etwa 25 Jahren nach dem in Israel geborenen US-amerikanischen Mediziner, Immunologen, Transplantationsbiologen und Anthropologen Uri Galili auch als Galili-Antigen bezeichnet. Dies liegt daran, dass Galili zusammen mit Kollegen in seinem Labor im Jahr 1984 den Antikörper gegen dieses Antigen entdeckt hatte [6]. Danach erschien eine Flut von weiteren Arbeiten, die insgesamt erstaunliche Erkenntnisse zu Tage förderten – sowohl für das Verständnis von Immunität, Krebsbehandlung und Abstoßungsreaktionen bei Organverpflanzungen, aber auch zum besseren Verständnis der Evolution des Menschen [3] [7] [8].

Das menschliche Immunsystem reagiert auf dieses Zuckermolekül wie auf jedes andere als fremd erkannte Antigen: Es produziert Antikörper dagegen, die sogenannten Anti-Alpha-Gal-Immunglobulin-G-Antikörper.

ANTI-ALPHA-GAL-IMMUNGLOBULIN-G-ANTIKÖRPER

Dieses Antigen spielt bei der Abstoßung von Xenotransplantaten eine bedeutsame Rolle und ist u. a. deswegen besonders gut untersucht. Bei der Transplantation von Organen (z. B. Herz, Niere, Leber oder Inselzellen aus der Bauchspeicheldrüse) von anderen Säugetieren (z. B. von Schweinen) wird die Immunreaktion vor allem von diesem Antigen ausgelöst. Schaltet man das Alpha-Gal Antigen gentechnisch ab, sind die Reaktionen nach Transplantationen entsprechend geringer [9], insbesondere hyperakut verlaufende Abstoßungsreaktionen sind deutlich reduziert [10].

Anti-Alpha-Gal-Immunglobulin-G-Antikörper sind im menschlichen Blut mit etwa 1 % des gesamten zirkulierenden IgG die häufigsten Antikörper überhaupt [11]. Sie werden als Reaktion auf den genannten Zucker, der auch von unseren Darm-Bakterien gebildet wird, in den Golgi-Apparaten menschlicher Zellen produziert und helfen uns, wie oben schon erwähnt, eine Sepsis zu überleben.

Als Alpha-Gal-Syndrom (AGS) wird eine durch Immunglobulin-E-Antikörper verursachte allergische Reaktion auf mit der Nahrung aufgenommenes Fleisch bezeichnet, das aus Tieren stammt, die das Galili-Antigen in ihren Geweben exprimieren. Einerseits kennt man diese IgE-vermittelte allergische Reaktion recht gut und schon seit längerer Zeit. Andererseits hat diese Krankheit bis heute etwas Rätselhaftes, weil entsprechende Labortests mit der klinischen Ausprägung der Erkrankung nur wenig korrelieren [12]. Zur Verwirrung nicht unerheblich beigetragen hat zudem die Tatsache, dass das Alpha-Gal-Syndrom auch nach Zeckenbiss auftreten kann ([ Abb. 1 ]). Tatsächlich hat man das Alpha-Gal Antigen auch im Darm von nordamerikanischen Zecken (Amblyomma americanum) und im schwedischen Gemeinen Holzbock (Ixodes ricinus) nachweisen können [13].

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Abb. 1 Zecke Amblyomma americanum (© mironovm/stock.adobe.com)
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Abb. 2 Zecke (Ixodes ricinus)(© andrei310/stock.adobe.com)
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Abb. 3 Ausbreitung der Lone Star Zecke in den USA

Martha’s Vineyard ist eine 232 Quadratkilometer große Insel vor der Südküste von Cape Cod im US-Bundesstaat Massachusetts, etwa 75 km südöstlich von Boston. Ihren Namen verdankt sie den Tatsachen, dass dort schon im Jahr 1602 wilder Wein wuchs und die Tochter des Entdeckers Martha hieß. Hierzulande bekannt ist sie seit 50 Jahren als Drehort des Films „Der Weiße Hai“ (1975). Was bei uns die Insel Sylt, ist an der Ostküste der USA Martha’s Vineyard: Ein Nobel-Ferienort, der ab dem 4. Juli (dem US-amerikanischen Nationalfeiertag) von jährlich mehr als 100.000 Touristen besucht wird – vor allem von den Mächtigen, Schönen und Reichen, die dort auch ihre Ferien-Villen besitzen. Nach einem in der New York Times am 12. August 2025 erschienenen Bericht hat sich das Leben auf dieser Insel seit etwa einem Jahr durch das Alpha-Gal-Syndrom wesentlich geändert.

Waren früher Spaziergänge auf Trampelpfaden oder durchs offene Gelände oder am Strand in leichter Kleidung bei den Touristen sehr beliebt, spazieren heute (1) deutlich weniger Menschen, (2) oft bis zur Unkenntlichkeit vermummt und mit Chemie eingesprüht (3) nur noch auf den Straßen und breiteren Wegen. Ging man früher tagsüber beim Farmer einkaufen und abends ausgiebig und gut im Restaurant Essen, kaufen die Leute heute im Supermarkt spartanisch sowie vor allem vegan ein und vermeiden Käse und Fleisch vollständig. Redete man früher über Politik, Gott und die Welt, so reden heute alle nur noch über Zecken. Nicht wenige sind dieses Jahr auch gar nicht mehr da. Der Grund: Auf Martha’s Vineyard ist schon im vergangenen Jahr eine Art Alpha-Gal Epidemie ausgebrochen. Auf der Insel durchgeführte Tests fielen noch im Jahr 2020 in 2 von 9 Fällen positiv aus; im Jahr 2024 waren 523 von 1254 durchgeführten Tests positiv [15]. Waren die Leute noch vor wenigen Jahren entspannt, offen und locker, so sind heute viele ängstlich, gestresst oder sogar wütend. Sie haben aufgehört, sich an der wilden Landschaft, dem wehenden hohen Gras und den vielen Rehen und Hirschen zu erfreuen, denn in genau dieser Umgebung fühlen sich Zecken, die 1985 erstmals auf der Insel beobachtet wurden, besonders wohl.

Nach einem Zeckenbiss kann das Antigen Alpha-Gal mit dem Speichel der Zecke ins Blut übertragen werden und dort eine allergische Reaktion verursachen. Diese kann danach auch beim Genuss von Fleisch oder Milchprodukten – von Speiseeis bis Käse – auftreten. Die Zecken übertragen eine Allergie gegenüber Schweine-, Lamm- und Rindfleisch, die ansonsten nicht aufgetreten wäre. Hiervon waren nach Angaben des CDC allein in den Jahren 2010 bis 2022 bis zu 450.000 Menschen in den USA betroffen [16]. Martha’s Vineyard stellt also nur die – weithin sichtbare und bekannte – Spitze des Eisbergs dar. Weswegen es auf der Insel auch wesentlich mehr Informationen gibt – bis hin zu Alpha-Gal Seminaren, Selbsthilfegruppen und veganen Kochkursen [15]. Geschäfte und Restaurant bieten „Alpha-Gal-sicheres“ Essen an; vegane Produkte wie Pflanzenfett-basierte Butter oder Speiseeis aus Kokosmilch finden regen Absatz.

Die Symptome einer Reaktion auf das Alpha-Gal Antigen variieren stark von Person zu Person, werden von Allergie-Spezialisten eher wahrgenommen als von Allgemeinärzten, und treten meist 2–6 Stunden nach dem Verzehr von Fleisch auf. Bei Erwachsenen kommt es eher zu klassischen allergischen Symptomen wie Nesselsucht, Ödeme, Atemnot und in extremen Fällen anaphylaktischem Schock. Bei Kindern stehen eher Bauchkrämpfe und Durchfall im Vordergrund, wenn auch diese Angaben nicht durchgängig gemacht werden [12], [16], [17], [18], [19]. Dies mag daran liegen, dass man in der medizinischen Fachliteratur zwar seit über 70 Jahren von alpha-Galactosidase spricht, das Alpha-Gal-Syndrom jedoch erst später und eher langsam in den Fokus des Interesses rückte: Von den ersten beiden Publikationen im Jahr 1975 bis zum Jahr 1983 gab es 18 Publikationen (also zwei pro Jahr) zu „Alpha-Gal“. Dann erscheinen mit der Arbeit von Galili aus dem Jahr 1984 drei weitere Arbeiten, 10 Jahre später (1994) waren es 20, nach weiteren 10 bzw. 20 Jahren (2004 und 2014) waren es jeweils 69, und erst danach stieg die Zahl deutlich an, auf zuletzt 156 im Jahr 2024. Insgesamt verzeichnet die medizinische Datenbank Pubmed für das gesamte halbe Jahrhundert von 1975 bis 2025 (stand: August) 2366 Arbeiten [20]. Man weiß vieles schlicht noch nicht, weswegen auch erst kürzlich ein Aufruf zu weiterer gemeinsamer Forschungsarbeit publiziert wurde [21].

So ist bis heute unklar, ob die Stärke der Symptome über die Zeit – Monate und Jahre – abnimmt. Dies liegt nicht zuletzt auch daran, dass viele Menschen nicht einmal wissen, ob sie noch am Alpha-Gal Syndrom leiden oder nicht, weil sie sich das Essen von Fleisch und Milchprodukten abgewöhnt haben und ihren Urlaub in Gebieten ohne Zecken verbringen. „,Manche Menschen sagen, es sei das Beste, was ihnen je passiert ist, und sie würden nie wieder zurückkehren‘, selbst wenn ihre Empfindlichkeit verschwinden würde“, zitiert Wells (2025) einen Ernährungsberater auf Martha’s Vineyard.

Man möchte ergänzen: Nicht nur für den Menschen wäre es gut, wenn weniger oder gar kein Fleisch mehr gegessen würde, sondern auch für den Planeten. Bereits im Jahr 2019 ergab eine im Fachblatt PNAS publizierte Studie, dass gesunde Lebensmittel auch geringere negative Auswirkungen auf die Umwelt haben (vgl. [ Abb. 4 ]). Die Umstellung der Ernährung hin zu einer pflanzlichen Ernährung würde gleichzeitig also sowohl die öffentliche Gesundheit als auch die ökologische Nachhaltigkeit verbessern [22]. Ein Jahr später legten die Autoren im Fachblatt Science nach und zeigten, dass das zentrale Ziel des Pariser Abkommens, die Begrenzung der globalen Erwärmung auf 2 °C oder weniger, nur erreicht werden kann, wenn wir unsere Ernährung global umstellen [23]. Im Grunde braucht es damit die zwischenzeitlich gewonnenen Erkenntnisse dazu, dass Ethikunterricht den Fleischkonsum reduzieren kann [24], gar nicht mehr.

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Abb. 4 Globaler Fußabdruck und Mortalität verschiedener Nahrungsmittel. Auf der x-Achse ist das relative Sterblichkeitsrisiko (> 1: erhöht, < 1: vermindert) und auf der y-Achse der Ökologische Fußabdruck (gemessen anhand von 5 Variablen) im Verhältnis zur Produktion einer Portion Gemüse (= 1) logarithmisch aufgetragen. Die Angaben beziehen sich auf den Verzehr einer zusätzlichen täglichen Portion der folgenden Lebensmittelgruppen (gefüllte Kreise: signifikant von 1 vermindertes Mortalitätsrisiko, Kreis, keine signifikante Abweichung): Vollkorn (30 g Trockengewicht); Mehl (verarbeitete Körner, 30 g Trockengewicht); Obst (100 g); Gemüse (100 g); Nüsse (28 g); Hülsenfrüchte (50 g Trockengewicht); Kartoffeln (150 g); Fisch (100 g); Milchprodukte (200 g); Eier (50 g); Hähnchen (100 g); Fleisch (100 g); Wurst (50 g); Limonade (225 g); und Olivenöl (10 g). Grün: nur minimal verarbeitete pflanzliche Lebensmittel; rot: Fleisch (Rind-, Lamm-, Ziegen- und Schweinefleisch) und Wurst

Da käme eine Allergie gegen Fleisch, die dieses Verhalten bewirkt, doch gerade recht. Man sollte sie also keinesfalls bekämpfen (Dies schließt natürlich nicht aus, dass man akute Fälle behandeln muss, beispielsweise mit Antihistaminika, Kortikosteroiden oder (beim anaphylaktischen Schock) mit Adrenalin-Autoinjektoren.)! Genau das meint nicht nur ein Ernährungsberater auf Martha’s Vineyard, sondern auch die beiden US-amerikanischen Bioethiker Parker Crutchfield und Blake Hereth aus der Abteilung für medizinische Ethik der Medical School der Western Michigan University in ihrem Ende Mai 2025 erschienenen Artikel „Beneficial Bloodsucking“ (zu Deutsch etwa „gutartiges Blutsaugen“). Sie argumentieren wie folgt: Wenn der Verzehr von Fleisch moralisch fragwürdig ist, dann sind auch Bemühungen zur Verhinderung der Ausbreitung des durch Zecken übertragenem Alpha-Gal-Syndroms aus moralischer Sicht fragwürdig. Denn das durch Zecken verursachte AGS sei eine Art moralischer Verstärker, der Menschen dazu motiviert, kein Fleisch mehr zu konsumieren. Die Autoren gehen sogar so weit, zu fordern, die Ausbreitung von Zecken und sogar deren Fähigkeit zur Übertragung des Syndroms (z. B. durch gentechnische Maßnahmen) zu fördern. „Unsere Beziehung zur Natur ist bereits von Gewalt und Ungleichgewicht geprägt. Der Verzehr von Fleisch untergräbt die Existenz des Menschen auf diesem Planeten erheblich, da die Fleischproduktion die ökologischen und umweltbezogenen Bedingungen beeinträchtigt, die für das Überleben der Spezies erforderlich sind. Wenn überhaupt, verbessert die Förderung einer Tierart, die diese existenziell bedrohlichen Verhaltensweisen verringert, unsere Beziehung zur Natur“, fassen die Autoren den Hintergrund ihrer Argumentation zusammen [26]. Sie bezeichnen AGS als „moralischen Bioverstärker“, dessen Förderung moralisch verpflichtend sei. „Das bedeutet unter anderem, dass Wissenschaftler verpflichtet sind, die AGS-Trägerkapazität von Zecken zu entwickeln, und dass menschliche Akteure verpflichtet sind, (1) andere dem AGS (und möglicherweise Lone-Star-Zecken) auszusetzen, (2) die Ausbreitung von AGS oder Lone-Star-Zecken nicht zu verhindern und (3) Versuche, AGS zu ,heilen‘, zu unterbinden“, argumentieren sie [26]. AGS sei keine Krankheit und könne daher gar nicht „geheilt” werden.

So sehen es die Ethiker. Die meisten Mediziner sehen das anders. Aufgrund des Klimawandels wird in Nordamerika die Zecke und damit das AGS bald Kanada erreichen, und auch hierzulande werden die Fallzahlen zunehmen. Man darf gespannt sein, wie wir uns, jeder Einzelne und als Gesellschaft, zu diesem Problem stellen werden.



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
07. November 2025

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