Zeitschrift für Palliativmedizin 2025; 26(03): 136-137
DOI: 10.1055/a-2560-8338
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Personalisierte Medizin

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Während ich mich durch das Buch der Kieler Ärztin Friederike Boissevain lese, erreicht mich die Nachricht eines befreundeten Ehepaars. An einem sonnigen Sonntagnachmittag waren sie mir Fahrrad fahrend auf einer kleinen Straße entgegengekommen und hielten für einen kleinen Ratsch an, dachte ich zumindest. Doch auf die Frage nach dem Wohlergehen, so frisch im Ruhestand angekommen, druckste er – die Augen verdrehend – herum und sagte dann doch: Morgen muss ich ins Krankenhaus, irgendwas stimmt mit meinen Blutwerten nicht, die Ärzte wollen das abklären. Während meiner Lektüre, ein paar Tage später, schickt mir die Ehefrau per Mail die Nachricht, es hätten sich Schatten auf Leber und Pankreas gezeigt, nun stehen weitere Untersuchungen an. Die vorläufigen Fakten in Worte gefasst, aber das Gedankenchaos entzieht sich der Ordnung getexteter Worte. Während draußen Frühlingsblüten aufsprießen, meldet sich innerlich das Herbstlaub. Blüten fallen.

Es mag mir nicht gelingen, die rund 200 Seiten füllenden Texte von Friederike Boissevain distanziert zu schildern. Zu sehr nimmt die Lektüre mich mit hinein in das Erleben, bei aller klugen, nach Textgattung und inhaltlichen Themen sortierten Struktur der Texte: Kurze, auf wenige Worte und Zeilen reduzierte lyrische Verdichtungen sind jedem der thematischen Abschnitte – Über das Leiden/Vom Ende her denken/Erlebtem Wort geben/Geschichten der Sterbenden/Mut/Zuversicht/Dankbarkeit/Krank und gesund/Raum/Abschied – vorangestellt, erste kleine Narrationen führen zu einer nachdenklich philosophischen Reflexion zum jeweiligen Thema, verbunden mit ein paar Fragen an die Leserin und den Leser. Abschließend weitere Erzähl-Miniaturen angefügt. Zwischen den Abschnitten florale Tuschezeichnungen in der Tradition des Sumi-E, einer vom Zen-Buddhismus beeinflussten Kunst, die genutzt wird zum Abbau von Stress und zum Umgang mit Kummer und belastenden Situationen.

Vor dem Hineinlesen in das Buch denke ich: Braucht es noch einen Band Illness Narratives, der Erfahrungsberichte und Tagebuchaufzeichnungen von Menschen, die an einem Tumorleiden erkrankt sind, intensiv kurativ behandelt und in Palliative Care bis zum Tode begleitet werden? Doch schnell werde ich eines Besseren belehrt: die Autorin des Bandes, Hämatoonkologin und Palliativmedizinerin, Fachärztin für Innere Medizin und Klinische Ethikberaterin, hat in Jahrzehnten der stationären und ambulanten Praxis Krankengeschichten zugehört und bewusst auf das geachtet, was hinter oder zwischen den Fakten, Symptomschilderungen und Behandlungswünschen steht. Auch wenn sich die Erkrankungen hundertfach gleichen und die Verläufe zu wiederholen scheinen, betreffen sie doch einen bestimmten Namen, einen unverwechselbaren Menschen, der mal mehr, mal weniger von den Behandler:innen, Versorger:innen und Begleiter:innen wohlgelitten ist. Zunehmend, so scheint es, nimmt Boissevain wahr, was sich bei ihr und auch bei anderen in der Begleitung ereignet, wenn sie Zeug:innen von Krankheitsgeschichten werden. So sammelt sie nicht einfach Krankheitsnarrative, vielmehr eröffnet sie „Erzählräume“, in denen die Namen und Daten, Diagnosen und Verläufe mitunter ebenso verschwimmen wie auch die klaren Grenzen zwischen Kranken und Gesunden, Behandelten und Behandelnden. Das Leiden, manchmal erlitten und ertragen, manchmal beklagt und bekämpft, nimmt alle auf je eigene Weise mit und bewirkt Resonanzen, in denen das Eigentliche erzählbar wird und zu überraschenden Perspektivwechseln führt. So entstehen gelungene Miniaturen des Erlebens von Ärzt:innen und Pfleger:innen, wenn sie sich der Abschiedlichkeit ihres professionellen Tuns gewahr werden. Die SAPV-Ärztin, die nach der nötigen Einweisung einer Patientin ins Krankenhaus begreift, dass diese nicht mehr nach Hause kommen wird. Beim Schließen der Kühlschranktür hinter weggeräumten Erdbeeren und einem geöffneten Joghurtglas wird ihr bewusst, dass niemand mehr die Reste essen wird.

Einer unter Arbeitsstress stehenden Krankenschwester am Stützpunkt macht ein nerviger Patient deutlich, dass er nicht noch einen Moment warten kann, bis sie Zeit für ihn hat. Seine Lebenszeit ist limitiert. Ein plötzlicher Augenblick der Erkenntnis, ganz wörtlich, als sie sich anschauen. Oder die letzten Worte von „W.“, einem unauffälligen, immer höflichen Patienten, die er mit Kraftaufwand an seine Begleiterin richtet, und die offen lassen, ob es sich um eine Lebensbilanz oder einen Kommentar zur Begleitung handelt: „Das war nichts. Wie ich es auch drehe und wende. Es war einfach: nichts.“

In vielen nächtlichen Spätschichtstunden müssen die kleinen Begebenheiten zu Papier gebracht worden sein. Die zu lyrischen Texten geformten Gedankensplitter wirken wie Puzzleteile der Erinnerung, vielfach zusammengesetzt und kombiniert, bis sich die Ahnung eines Sinns ergibt. Und in jedem Text ist ein ganz bestimmter Mensch bewahrt, der erinnert oder erinnert wird. Das lyrische oder erzählende Ich kann jede:r sein und ist doch eine einzige, unaustauschbare Person. In diesem Sinn handelt es sich bei „Blüten fallen“ um ein wahrhaftiges Stück „personalisierte Medizin“, sehr wohl auch in ethischer Perspektive, denn erkrankt ist manchmal das System mehr als die Kranken, die bei allem Leid gesünder bleiben als alles um sie herum.

Die Ärztin, der ein Armenischer Patient ein Holzkreuz in die Hand drückt. „Ein Medizinflüchtling“ sagte eine Kollegin bei der Besprechung im Tumorkonferenz über ihn, der in der „Bugwelle“ der Flüchtlingskrise nach Deutschland kam und die hiesigen Kassen mit seinen Behandlungskosten erheblich belasten dürfte. Selbst hat er nur, was in seine Tasche passt. Wie das Holzkreuz, und das er seiner Ärztin in die Hand drückt und wechselweise auf sich und sie deutet: „One“, sagt er.

Immer wieder muss ich das Buch zur Seite legen, auch wenn es sich gut und flüssig liest. Der eröffnete Erzählraum zieht auch mich hinein. Auch das befreundete Ehepaar, deren Erleben erst noch nach Worten sucht, um erzählt werden zu können. Und wohl auch ihre ärztlichen und pflegenden Wegbegleiter in den kommenden Wochen, Monaten, Jahren. Wer weiß es schon?

Unbedingt empfehlenswert.

Traugott Roser, Münster



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Article published online:
28 April 2025

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