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DOI: 10.1055/a-2550-3285
Kommentar zu: Rückenmarkschwellung und intradurale Kompression beim akuten Halsrückenmarktrauma
Authors
Akute zervikale Rückenmarksverletzungen zählen zu den größten Herausforderungen der Wirbelsäulenchirurgie. Trotz Fortschritten in der Akutversorgung bleibt die Morbidität hoch und wirksame neuroprotektive Therapien stehen bislang nicht zur Verfügung. Die S3-Leitlinie empfiehlt die frühzeitige knöcherne Dekompression als Standard und adressiert damit primär die extradurale Kompression [1].
Ein wesentlicher pathophysiologischer Aspekt bleibt bislang unzureichend berücksichtigt: die intradurale Schwellung des Rückenmarks. Sie erhöht den intraspinalen Druck, verengt den Liquorpulsationsraum und senkt den Rückenmark-Perfusionsdruck. Die Folge sind sekundäre Ischämien; subakut zudem Ödem und neuroinflammatorische Reaktion mit Zelltod – eine suffiziente Dekompression erhält die Perfusion in der Regenerationsphase und kann die Läsionsausdehnung begrenzen [2].
Während in der Neurotraumatologie die dekompressive Kraniektomie mit Duraeröffnung in vergleichbarer Situation etabliert ist, findet sich ein analoges Konzept bislang nicht in den spinalen Leitlinienempfehlungen.
Die vorgestellte Studie von Arora et al. zeigt, dass das Ausmaß der intraduralen Schwellung nach akuter zervikaler Rückenmarksverletzung ein unabhängiger Prädiktor für die neurologische Erholung ist. Damit rückt die intradurale Komponente stärker in den Fokus der Diskussion künftiger dekompressiver Strategien. Denn selbst nach suffizienter knöcherner Dekompression kann eine relevante intradurale Kompression fortbestehen und den neurologischen Erholungsverlauf limitieren.
Die aus physiologischen Studien bekannten Effekte einer Duraerweiterungsplastik erhalten durch die vorliegende Arbeit zusätzliches Gewicht. Für den klinischen Alltag bedeutet dies v.a.: Bei ausgeprägter intraduraler Schwellung auf der präoperativen Bildgebung sollte die Möglichkeit einer zusätzlichen Duraerweiterungsplastik zumindest erwogen werden. Weiter ist die Entscheidung zu individualisieren – etwa bei jungen Patienten mit hohem Verletzungsgrad (AIS A/B) oder postoperativ persistierend fehlendem perimedullären Liquorsignal, die in bisherigen Kohorten als besonders profitabel beschrieben wurden [3].
Die Diskussion um die Rolle der Duraerweiterungsplastik bei zervikalen Rückenmarksverletzungen polarisiert die Fachgemeinschaft seit Jahren. Befürworter argumentieren, dass – wie in der hier diskutierten Studie – die alleinige knöcherne Dekompression häufig nicht ausreicht. Zurückhaltung ergibt sich vornehmlich aus der Sorge vor Komplikationen und der nicht standardisierten Implementierung intraduraler Mikrochirurgie außerhalb spezialisierter Zentren. Tatsächlich ist das Risiko einer Liquorleckage nach Duraerweiterungsplastik das häufigste Problem [4]. Hinzu kommt: Trauma und spinale Dysregulation erhöhen die Vulnerabilität. Eine operative Strategie mit potenziell erhöhtem Risiko für Meningitis oder Wundinfektion wiegt in diesem Kontext schwer.
Damit zeichnet sich ein Spannungsfeld ab: Auf der einen Seite ein plausibler, physiologisch belegter Nutzen; auf der anderen Seite eine nicht zu vernachlässigende, wenn auch überwiegend beherrschbare Komplikationslast. Entscheidend sind daher eine präzise Patientenselektion und die Verfügbarkeit der notwendigen chirurgischen Expertise.
Aus neurochirurgischer Sicht ist es schwer vertretbar, die intradurale Dimension des Rückenmarkschadens zu ignorieren. Die Daten von Arora et al. unterstreichen die intradurale Schwellung als zentralen prognostischen Faktor. Somit erscheint eine proaktive Haltung gegenüber der Duraerweiterungsplastik angebracht – nicht als universelles Standardverfahren, wohl aber als Option in selektionierten Situationen. Hiernach könnte der potenzielle Gewinn an neurologischer Erholung größer wiegen als das in erfahrenen Zentren beherrschbare Risiko von Komplikationen.
Gleichzeitig ist zu betonen: die Evidenzlage ist unvollständig. Bis belastbare randomisierte Daten vorliegen [5], braucht es geordnete Prozesse. Zertifizierte Wirbelsäulenzentren rechtfertigen sich gerade durch die gelebte Interdisziplinarität in der Akutsituation: mit frühzeitiger neurochirurgischer Einbindung bei intraduralen Fragestellungen, klaren Indikationskriterien, konsentierten Entscheidungen und konsequenter Ergebnisdokumentation kann der selektive Einsatz intraduraler Dekompressionsstrategien verantwortungsvoll geprüft und – wo indiziert – zielgerichtet zur bestmöglichen Unterstützung der funktionellen Rekonvaleszenz unserer Patienten eingesetzt werden.
Publication History
Article published online:
20 October 2025
© 2025. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany
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Literatur
- 1 Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN), Deutschsprachige Medizinische Gesellschaft für Paraplegiologie (DMGP). Diagnostik und Therapie der akuten Querschnittlähmung. Accessed September 25, 2025 at: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/030-070
- 2 Hubertus V, Meyer L, Waldmann L. et al. Identification of a Therapeutic Window for Neurovascular Unit Repair after Experimental Spinal Cord Injury. Journal of Neurotrauma 2025; 42: 212-228
- 3 Aarabi B, Chixiang C, Simard JM. et al. Proposal of a Management Algorithm to Predict the Need for Expansion Duraplasty in American Spinal Injury Association Impairment Scale Grades A–C Traumatic Cervical Spinal Cord Injury Patients. Journal of Neurotrauma 2022; 39: 1716-1726
- 4 Phang I, Werndle MC, Saadoun S. et al. Expansion Duroplasty Improves Intraspinal Pressure, Spinal Cord Perfusion Pressure, and Vascular Pressure Reactivity Index in Patients with Traumatic Spinal Cord Injury: Injured Spinal Cord Pressure Evaluation Study. Journal of Neurotrauma 2015; 32: 865-874
- 5 Saadoun S, Grassner L, Belci M. et al. Duroplasty for injured cervical spinal cord with uncontrolled swelling: protocol of the DISCUS randomized controlled trial. Trials 2023; 24: 497
